DOKU
Ich
kann keinen Film mehr sehen, ohne den Inhalt auf mich zu beziehen. Nicht einmal
eine Naturdoku über das Erzgebirge zum Beispiel. Binnen Sekunden nehme ich jede
Rolle an, die mir angeboten wird. Ich werde wie die Köcherfliegenlarve, die zu
ihrem Schutz kleine Steine zu einem Köcher verklebt. Eine Hülle entsteht um meinen
Körper, nur aus Geschichten, von denen die meisten recht neu sind und noch
ungefestigt, noch nicht in einer Erzähltradition zusammengehalten, sondern als Teilchen
im freien Raum schwebend. Der Klebstoff, von mir abgesondert als Aneinanderreihung
von Worten über Sinn und Wahrheit, droht sich im Lauf der Zeit aufzulösen und
ich muss stets befürchten, plötzlich nackt da zu stehen, mit nichts als der Trauer.
Als
nächstes bin ich die Feuersalamanderin, ihre Jungen lebend gebärend. Vom Zerreißen
der Eihaut an müssen sie alleine durchs Leben gehen. Ich sehe ihnen nach und
frage mich, wann damals meine Eihaut riss. Oder ob ich mich vielleicht immer
noch darin befinde, oft scheint es mir so. Um- und umgewirbelt in der Welt, umgeben
von einem Band aus Gedankenschleifen, kann ich dieser Beschleunigung nichts
entgegensetzen, geschweige denn, die Richtung vorgeben.
Schnell
nehme ich die Gestalt einer Wassermaus an. Ich zwinge mich zum Tauchen. Es
sieht leicht aus, aber die Tiefe kostet mich viel Kraft. Um meiner Rolle
gerecht zu werden, sammle ich mit Schnappatmung Wortblasen in meinen Haaren an.
Diese Einsprengsel aus Luft helfen mir, am Grund des Baches Steingewichte mit
meinem Körper zu stemmen, die das Mehrfache meines Eigengewichts ausmachen. Ich
halte Seminare für Trauernde, schreibe ganze Romane zu Ende, gebe Qigong-Kurse
und so weiter. Es gelingt mir, den Leuten vorzutäuschen, dass es mir gut geht.
Am
liebsten bin ich die Wasseramsel. Ich mag das Weiß der Trauer am Körper. Ich vereine
zwei Elemente. Ich fliege, aber ich kann auch, wie sie, mit offenen Augen abtauchen,
wenn ich mich beobachtet fühle und am Grund mit dem Schnabel Steine wälzen, meiner
Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Wasser ist ein mächtiger Gestalter, im Gespann
mit der Zeit, sagt die sonore Sprecherstimme in mein Ohr, während es um mich
rauscht. Wie schwer es sein kann, wieder ins Fließen zu kommen, weiß ich.
Wasser
hat einen spitzen Kopf, sagt man. Zu mir hat das noch keiner gesagt. Alle außer
mir wissen so etwas. Selbst die Kindergartenkinder in meinem Projekt gestern
versuchten, es mir begreiflich zu machen. Ständig zeichneten sie Wassertropfen
mit spitzen Abrissenden.
An
dieser Stelle schalte ich den Bildschirm dunkel. Mehr Rollen will und kann ich
für heute nicht einnehmen.
©barbarabiegel2018