Donnerstag, 6. Februar 2025

Ein Hörspiel und die Folgen

 

 

Ich wache früh auf, greife zum MP3-Player und bin eineinhalb Stunden gefesselt von einem Hörspiel. „Der veruntreute Himmel“ von Franz Werfel. Während des Hörens mache ich eine seltsame Metamorphose durch. Ich durchschaue bald, dass die Hauptperson, die Köchin, von ihrem Neffen 30 Jahre lang ausgenutzt wird. Sie zahlt für ihn, damit sie später jemanden hat, der für ihr Seelenheil betet, damit sie in den Himmel kommt. Den offensichtlichen Betrug vor Augen, tut sie mir leid. Dann, als sie herausfindet, dass er sie belogen hat – und ihre Beine wegen der aufopfernden Arbeit für ihre „gnädige Herrschaft“ sich vor Schmerzen verlangsamen, muss sie sich von ihrem Neffen anhören, sie habe aus reinem Egoismus gehandelt, nur ihres Seelenheils wegen, und sich nicht um sein Seelenheil geschert, habe ihn alleingelassen, nicht begleitet, „nur“ bezahlt. Sofort werde ich wütend über diese Manipulation. Die eigene Verantwortung abschieben und auch noch die anklagen, die man vorher benutzt hat. Plötzlich ist das Stück tagesaktuell. Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele die Verantwortung von sich schieben und andere schuldig sprechen. Wenn in einer sich verändernden Welt Sicherheiten abhandenkommen und für selbstverständlich gehaltene Erwartungen nicht mehr erfüllt zu werden drohen. Empört höre ich der Anklage zu und bin froh, dass die Tante ihren Fehler erkennt. Doch dann wird ihr bewusst, dass sich ihre Hoffnung auf den Himmel aufgelöst hat und sie fragt sich, ob der Neffe nicht recht hat und sie das nicht nur aus Egoismus selbstverschuldet hat, sondern auch mangels Fürsorge an ihm große Schuld auf sich geladen hat. Sie habe für ihr Seelenheil gesorgt und müsse nicht nach Rom pilgern, habe nicht verfehlt, sagte sie. Als sie mit 70 ihre Stelle verliert, schickt die Vermittlerin sie zum Arzt, weil sie so schlecht gehen kann. Dieser rät zur Operation, sie könne sonst in wenigen Jahren an einer Embolie oder Thrombose sterben. Als Beispiel nennt er drei Jahre, eine Zeitspanne, die sie fortan nur noch zu haben glaubt. Immer stärker wird der innere Druck wegen der Schuld, die sie auf sich geladen hat und der sich nähernde Tod, das „Absterben“, trägt dazu bei, dass sie eine Pilgerreise nach Rom bucht, zu einem erhöhten Preis, was sie als zu leistende „Buße“ betrachtet. In der Reisegruppe befindet sich ein Kaplan, der sich ihrer annimmt. Mit der Zeit öffnet sie sich ihm, übergibt ihm die Briefe, die sie immer mit sich herumträgt und bittet ihn, sie zu lesen. Auch der Kaplan geht zuerst davon aus, sie habe mit dem Neffen gesprochen und dessen Weg begleitet. Am nächsten Tag ist die Audienz beim Papst. Die Köchin hat furchtbare Schmerzen in den Beinen und denkt: „Das ist zu groß für mich.“ Sie hat Angst, große Angst. Ich wünsche ihr, dass sie sich nicht so klein macht. Der Papst ist ebenfalls gesundheitlich angeschlagen und will dennoch sieben Personen segnen, auch wegen der politischen Lage nach der Machtergreifung der Nazis. Die Köchin wird ausgewählt. In dem Moment, als der Papst sie segnen will, schwankt er und stützt sich auf ihrem Kopf kurz ab, sie klammert sich an die Soutane, küsst die Hand und fällt lang mit ausgebreiteten Armen auf den Boden, was zuerst als Ausdruck großer Frömmigkeit gelesen wird. Doch sie ist ohnmächtig, kommt ins Krankenhaus und hat laut Arzt noch drei Stunden zu leben. Der Kaplan besucht sie. „Was soll ich tun?“, fragt sie verzweifelt angesichts der großen Schuld, die sie auf sich geladen hat. Der Kaplan sagt, er habe erst angenommen, sie habe sich schuldig gemacht an ihrem Neffen, doch nach dem Lesen der Briefe erkannt, dass es sich um einen „bösen“ Menschen gehandelt habe. Sie treffe keine Schuld. Allein die Furcht vor der Wahrheit sei ihr vorzuwerfen. „Ist das also meine Sünde?“ „Nein, das ist keine Sünde, sondern eine allzu menschliche Schwäche.“ Sie habe voll Vertrauen und Liebe gehandelt. Da wird ihr ganz leicht. Sie hört noch: „Absolvo te“. Der Kaplan spricht sie frei. Und sie stirbt.

Ich muss weinen. Wegen meiner Schwäche, andere verändern zu wollen, wegen meiner Wahrheitsliebe in Beziehungen, die manchmal nicht die richtigen Worte findet, wegen des Unvermögens, andere mit ihrer Furcht vor der Wahrheit anzunehmen. Und über jene, die die Kraft nicht aufbrachten, die Wahrheit anzusehen.