Samstag, 24. Mai 2025

Die Kunst, es anders zu machen

 

 

Lebenslinien im BR: Die Kunst, es anders zu machen

Eine Dokumentation von Julia Grantner

 

Der Film über meine Freundin Bernadette hat mich sehr berührt. Ihr Gesicht, ihr Lachen, ihr Humor und ihr Wortwitz, ihre Geschichte. Vor über 40 Jahren haben wir uns an der Kunstakademie kennengelernt. Zwischen unseren Treffen konnte viel Zeit vergehen, als Ersatz gab es Briefe. In der Kameraführung des Films finde ich etwas von der Art unserer Beziehung, manchmal über die Ferne, zwischen Gräsern hindurch, manches in Ruhe betrachtet und geteilt, aber unausgesprochen.

Beim Anblick des Hauses, in dem ich sie einige Male mit den Kindern besucht habe, werde ich in eine Zeit versetzt, in der wir gemeinsam versuchten, Kinder und Kunst unter einen Hut zu bringen und uns in einem Haus, in einem neuen Leben einzurichten, sie an der Donau, ich an der Zenn. Unsicherheiten, Existenzängste, aber auch die Fähigkeit, mit der Kunst Geschehnisse zu verwandeln sowie innere Stärke haben uns begleitet. In den Briefen, die sie mir damals schrieb und die ich aufgehoben habe, finde ich Kreativität, Witz, Erkenntnisse und Appelle, die Mutterrolle mit Selbstbewusstsein auszuüben, zum Wohl der Kinder. Früh macht Bernadette mir die politische Dimension sichtbar, kritisiert Konsum- und Konkurrenzdenken, die vom Eigentlichen ablenken und innere Entwicklungen verunmöglichen. Im Strudel des Alltags haben mich ihre Botschaften damals wenig oder gar nicht erreicht. So haben wir alle unsere blinden Flecken und unsere Kinder ihre eigene Geschichte, von Anfang an.

Das uralte Haus mit den Papiersternen in jedem Fenster mochte ich gern. Besonders den Baum davor, der nach wie vor seine Schatten auf die helle Fassade wirft. In der Küche hatte Bernadettes Mann den Boden unter den Dielen ein Stück ausgegraben, neu gedielt und so für mehr Raumhöhe gesorgt. Abends ging jemand nach draußen und schloss die Fensterläden für die Nacht. Im Gang roch es nach selbstgemachtem Käse, der Badeofen wurde mit Holz beheizt, die Zimmer wirkten dunkel und geheimnisvoll mit all ihren besonderen Gegenständen. Es gab einen winzigen Hinterhof mit etwas Grün. Über allem wachten die Augen einer Katze mit getigertem Fell.

Hinter der nächsten Häuserzeile strömte die Donau und wenn man die große Brücke überquerte, kam man nach einem im Wald steil ansteigenden Pfad zum Sieben-Brückerl-Weg, einem meiner Lieblingsorte. Mit etwas Glück zeigen sich Flusskrebse im Glimmersand und jede der Brücken über den klaren Bach zeigt ihre Ziffer her, auf der Bernadettes Sohn damals kontrolliert hat, ob es auch wirklich sieben Brücken waren.

Dann der Kontrast nach Bernadettes Trennung und Auszug. Die neue Reihenhaus-Wohnung, alles lichter und luftiger, wir saßen auf dem Sofa und lachten über „Ice Age“, im Nachhinein kann ich die Anspannung erkennen, die die ganze Familie ergriffen hatte. Eine ganz eigene Welt bot das Atelier, man betrat es in einer schmalen Altstadt-Gasse, die zum Fluss führte, stieg die vielen Treppen hinauf bis in das geräumige Oberlicht-Atelier, das Farbe und Freiheit atmete. Immer gab es Figuren in Bernadettes Malerei. Ich liebte die frühen Pastellkreide-Arbeiten auf Sandpapier, die mit ihrem dichten Farbauftrag zeitlose Innigkeit heraufbeschworen, Vater/Mutter/Kind, fast religiös erzählten sie von der Sehnsucht nach Heil- Sein, nach Ganz-sein. Die Schwingungen der Farben, die einem so viel Kraft geben können, mäandern durch den gesamten Film und tauchen alles in Wärme. Ein starker Kontrast zu dem tieftraurigen Kindergesicht auf den Schwarz-Weiß-Fotografien der 60er Jahre. Eingefangene Vergangenheit wie die winzigen Schneckenhäuser in ihrem kleinen Glasfläschchen im Atelier, bei dessen Anblick meine Sammelleidenschaft nach diesen nur in der Donau vorkommenden Wasserschnecken erwachte. Beim letzten Besuch vor zwei Jahren ließ mich der Fluss viele von ihnen finden.

In der Dokumentation kann ich sehen, wie sich das künstlerische Werk verdichtet hat, wie Künstlerin und Werk sich angenähert haben, beide kraftvoll, beide zart, beide Körper und bewegend, beide mit Tiefe. Mein Bild von ihr, eine gute Mutter gewesen zu sein, hat sich nicht ins Gegenteil verkehrt - ihre Kinder haben eine wunderbare Ausstrahlung und liebevolle Art.

Ein ruhiger Film in warmen Farben und mit weichem Licht, der einem Zeit lässt und mit der Erlaubnis, uns selbst zu verzeihen, ins Offene führt.


Freitag, 25. April 2025

Die Tonaufnahme


 

 

Ich komme nach Hause und mache weiter mit den Listen. Ich nehme Gegenstände im Zimmer meines Mannes in die Hand und entscheide über ihr Schicksal. Ich werfe einen Blick in den Karton mit dem Dat Rekorder von Sony, den er Mitte der Neunziger Jahre für eine damals große Summe gekauft hat. Darin sind auch noch das Netzteil und drei kleinformatige Kassetten. Ich drücke den winzigen OPEN-Schalter nach rechts und das Deck öffnet sich. Ich stecke die Kassette hinein, auf der „Klanglandschaft Darss 2006“ steht. Ich schließe das Fach, setze die Kopfhörer auf und drücke die PLAY-Taste. Ich höre die Abfahrt eines Zuges und Lautsprecherdurchsagen. Dann fährt der Zug in einen Bahnhof ein, die Türen öffnen sich und ich bin in Warnemünde. Als nächstes fahre ich mit dem Rad durch einen Wald, höre Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes in den Bäumen, bis das Rad abgestellt wird – deutlich ist das Klacken des Ständers zu hören. Begrüßungsworte an einer Rezeption ertönen. Im Hintergrund spielen Kinder im Freien, dann ein erneutes Klacken und ich weiß, das ist der Türgriff des alten Eisenbahnwaggons auf dem Gelände der Jugendherberge im Darsswald. Ich sehe den Ort vor mir, an dem wir uns vor über 20 Jahren kennengelernt haben. Jeden Sommer nahm mein Mann dort Quartier, oft für vier Wochen. Lachen, Stimmengewirr und Tellerklappern sind zu hören, bis das Rad wieder durch den Wald bewegt wird. Dann Schritte, wohl auf Kies. Doch bald erkenne ich, wo sich mein Mann befindet: Er läuft durch die Dünen zum Strand. Das Rauschen des Meeres wird laut und lauter. Er ist angekommen. Ich sehe die Bilder der Seebestattung vor mir und drücke die STOP-Taste.

Ich wünschte, ich könnte das Leben zurückspulen.

 

©BarbaraBiegel2025

Donnerstag, 17. April 2025

Be-Deutungen

 

Ich hätte nie gedacht, dass mir der Garten einmal so viel bedeuten würde. Schon als ich ihn das erste Mal sah, kam mir Händels Text in den Kopf:

Ev'ry valley shall be exalted, and ev'ry moutain and hill made low; the crooked straight and the rough places plain.


Ganze Tage verbrachte ich in der Hütte, zwischen Gewächsen, die jemand vor langer Zeit gepflanzt hatte. Vertraut mit den Besuchern des Gartens, ihren Gesängen, Fährten und Losungen fühlte ich mich als Teil der Natur. Und lernte von ihr.

Über allem lag die Wolkendecke, manchmal leicht, manchmal dicht und schwer.

Hütte, Bett, Ofen und Kerzenwachs begleiteten mich durch die Nächte. Der Fuchs lief am Zaun entlang und warf Blicke durchs Fenster. Der einzige Hase der Gegend stattete der Wiese Besuche ab und über allem leuchtete der Goldregen. Mäuse tanzten mir auf dem Kopf herum, wenn ich einen Brotrest im Regal vergessen hatte. Die Schlange zeigte sich, wenn ich sang. Sie kroch unter der großen alten Ligusterhecke hervor, die sich im Lauf der Zeit, von niemandem beschnitten, zur Seite geneigt hatte und sowohl die Hütte als auch das Lagerfeuerrund vor aller Augen verbarg. Zusammen mit Waldkauz und Mond betrachtete ich die Flammen, bis zuletzt das rote Glühen im Steinrund übrigblieb: Die Große Stadt. Wer war dort noch auf, in welchen Vierteln funkelten noch Lichter?

Vor dem Schlafengehen ging ich die paar Stufen zu dem einzeln stehenden Klohäuschen hinunter –bei offener Tür konnte man in das Grün des Waldes schauen. Darüber zeigten sich nach Einbruch der Dämmerung in immer wieder neuer Position die Sterne: das Sommerdreieck, der Große Wagen, der Jäger Orion.

Und ich erinnere mich. Auf dem Klo sitzend wiederholte ich leise vor mich hin singend in einer beschwörenden Bejahung die Zeilen Händels: we shall all be changed.

 

©BarbaraBiegel 2025


Donnerstag, 3. April 2025

Steine

 

„Es gibt Zeiten, wo die Zerbrechlichkeit alles Lebenden so offensichtlich ist, dass man jeden Augenblick auf einen Stoß, Sturz oder Bruch zu warten beginnt. Man fängt an, mit Schicksalsschlägen zu rechnen.“ Das schreibt Siri Hustvedt in ihrem Roman „Der Sommer ohne Männer“. Ich mag das Buch, das sich so persönlich an die LeserInnen wendet, das einen so liebevollen Blick auf eine junge Familie, alte Eltern, Ehemänner, junge Mädchen und nicht zuletzt auf sich selbst, die Ich-Erzählerin richtet. Sie scheut sich weder vor Gefühlen noch davor, Verantwortung zu übernehmen und Dinge anzusprechen.

Die Zerbrechlichkeit alles Lebenden, dazu gehört für mich immer auch der Blick auf unsere Ängste, auf die Psyche der Kinder und Heranwachsenden, auf die politischen Veränderungen und vor allem auf die Natur. Sie spiegelt uns am deutlichsten, wie es um uns steht.

Ich werde im Sommer zum dreizehnten Mal umziehen. Erneut geht es ums Loslassen, diesmal bin ich noch großzügiger als die letzten Male – es soll, wenn möglich, das letzte oder vorletzte Mal sein. Man weiß nie. Jedes Ding wird in die Hand genommen und entweder als Mitnehmens-würdig, Gebrauchtwarenhof-würdig, Flohmarkt-würdig oder wegwerf-würdig erachtet. Die Dinge üben Macht über uns aus – das wird mir vor allem bewusst, wenn ich die Widerstände wahrnehme, wenn es darum geht, meine gesammelten Steine „aufzugeben“. Für viele werde ich in der Gegend des neuen Wohnorts einen guten Platz finden, doch ab und zu ertappe ich mich dabei, wie ich das eine oder andere Exemplar wieder aus der Schachtel nehme, die für den Umzug bereitsteht. Es ist weniger der Fundort der Steine, der mich mit ihnen verbindet, es ist ihre Form, die Glätte und besonders die weißen Quarzbänder, die die Brüche der Erdgeschichte in sie eingeschrieben haben wie die Linien einer Zeichnung. Auch diese Linien erzählen von Zerbrechlichkeit, sind sie doch in einem Moment entstanden, als unter großem Druck Teile zusammengefügt wurden, die vorher großer Druck hatte bersten lassen. Und die Steine verkörpern für mich die Zeit, denn es sind meist Flusskiesel, die über lange Zeiträume rundgeschliffen wurden.

Über meinem Schreibtisch ist folgender Text zu lesen (AutorIn unbekannt):

Von allen Kreaturen in diesem Universum haben Felsen die größte Begabung, an ihrem Platz festzuhalten. Das heißt nicht, dass sie sich nicht bewegen, sie bewegen sich, aber sie schaffen es, ihren Platz zu behalten, ihr Gewicht, ihr Zentrum.

Gib dem Teil in dir nicht nach, der sagt: Ich bin nicht gut genug! Sei ein Fels!

 


Sonntag, 23. März 2025

Foto-Fund

 



 
 

Das Foto hat vor vielen Jahren mein Mann aufgenommen. Ursprünglich ein Dia, fand er es wert, als Foto entwickelt zu werden. Auch die Größe im DinA5 Format zeigt, dass das Motiv für ihn eine besondere Bedeutung hatte. Aufgenommen hat er es in seiner Lieblings- und Sehnsuchtslandschaft, auf dem Darss, der Halbinsel in Mecklenburg-Vorpommern, die jedes Jahr, manchmal mehrere Male, sein Ziel war. Dort haben wir uns kennengelernt.

Die Landschaft war ihm von vielen Aufenthalten vertraut, er bewegte sich auf dem Rad von Ort zu Ort, vom Bodden ans Meer und zurück und vor allem im Wald des Nationalparks. Mit ihm fühlte er sich verbunden. Er liebte den Buchenwald und dessen Geschichte. Mindestens einmal galt sein Besuch dem „Alten Meeresufer“ an der Buchhorster Maase. Ein Wanderweg verläuft an der heute sanften, von Buchen gesäumten Abbruchkante entlang, die den Wald von der grasbewachsenen Freifläche des Neudarss trennt. Oft konnten wir Wildschweine vom Weg aus beobachten, einmal auch Rotwild und immer Greifvögel. Gewaltige Persönlichkeiten sind die Buchen, die am Weg stehen, überwältigende Riesen, durch die der Wind fährt und ihnen krächzende oder jammernde Klänge entlockt. Auch Tonaufnahmen hat mein Mann gemacht und dieses beeindruckende Klangbild festgehalten.

Auf dem Foto kann ich erkennen, dass Wind geht. Im mittleren Bereich sieht das Laub leicht verwischt aus, auch der Ast im Vordergrund wirkt bewegt. Rechts im Hintergrund sind Bäume zu sehen, die nicht mehr ganz standfest zu sein scheinen, am Bildrand davor steht der große Stamm einer Kiefer. Seine schattierten Brauntöne finden sich in der Farbigkeit des Waldbodens, während die Stämme der Buchen sich grün und glatt gegenüberstehen. Beide haben sich zweistämmig entwickelt. Das rechte Exemplar erscheint schlanker und weiblicher, das linke wirkt kräftiger, gedrungener und eher männlich auf mich. Es sind zwei Wesen, die sich da gegenüberstehen, sich leicht einander zuneigen und sich ansehen. Ein Ast streckt sich wie der Versuch einer Berührung dem Gegenüber entgegen. Ich sehe uns beide, nach Antworten suchend.

 

©BarbaraBiegel2025