Zufälle gibt es wahrscheinlich nicht, oder? Gestern bin ich das
erste Mal hier in der Bücherei gewesen – wieso habe ich das nicht schon früher
getan?
Von meinen Füßen habe ich mich erst in die Abteilung Kunst
führen lassen, suchte etwas zeitgenössisches, mich betreffendes, also musste es
bei „Kunst nach 1960“ sein, was als letzte Zäsur am Zeitstrahl angegeben war,
obwohl die Zeit zwischen 1960 und heute mein ganzes Lebensalter umschreibt und
in der Kunst eine unübersehbare Menge an Neuerungen hervorbrachte bis zu dem
Punkt: „Heute“ ist gleich „zeitgenössische Kunst“, dazu hatte ich vor der
Bücherei ein Symposion besucht, aber davon später.
Mein Blick scannte das ganze Kunstregal ab, blieb kurz bei
Beuys hängen, überflog ganze Kunstjahrzehnte und fand das Angebot dünn: keine
Frauenkünstlerinnen und noch weniger Frauenautorinnen. Unzufrieden las ich die
Stichworte der Unterabteilungen, auch bei „Biografien“ war nichts dabei,
schließlich gab es noch die Anthologien, hier „Frauen in der Kunst“ oder „Woman
Artists“, das ich selbst besitze. Ganz hinten fand ich zwei Bücher über Street
Art und Graffiti, eines davon über weibliche Künstlerinnen in dieser Szene –
und nahm es mit, denn ein kurzes Anblättern hatte mir schon eine wunderbare
Welt aus Zeichen gezeigt, von denen mich viele berührten. Vielleicht schwang
auch die Tatsache mit, dass diese Kunst sich der Öffentlichkeit aufdrängte ,
sich des öffentlichen Raums bediente und somit auch politisch war – von dieser
Tagung war ich angefixt durch die vielen Beispiele politischer Kunst und
gleichzeitig aggressiv gestimmt durch die Erinnerung an meine Versuche, in
dieser Stadt wahrgenommen zu werden.
Jedenfalls trug ich das dicke quadratische Graffitibuch
unter dem Arm mit durch die weiteren Regalreihen, denn ein zusätzliches Buch
wollte ich noch mitnehmen, hm, vielleicht zum Thema „Lebensfragen“, denn eine
Beratung in dieser Hinsicht hatte ich doch wohl nötig, aber die Titel trafen
mein Problem nicht, schon gar nicht die im Regalmeter Frauen. Dann eben weiter
zu „Pädagogik und Psychologie“, wieder ein Feld für Problembearbeitung, zumal mir
die letzte Unterrichtstunde völlig entglitten war und ich schon überlegt hatte,
mit dem Kunstunterricht aufzuhören, aber ich ging zögernd vorbei, schließlich gab
es externe strukturelle Gründe für die
schwierige Situation an der Schule, die ich nicht lösen konnte, eben so wenig,
wie ich den Kindern nicht durch Lesen eines Psychologiebuches besser begegnen können würde.
„Warum keine Belletristik?“, dachte ich. Schließlich hatte
ich erst durch E. von Audre Lord gehört und ihrem politischen Ansatz und eines
ihrer Bücher von ihr empfohlen bekommen. Ich verließ die Sachbuchabteilung und
setzte mich in der Belletristikabteilung an den PC, gab die Autorin in die
Suchbegriffmaske ein, drückte nach Anweisung auf GO – kein Ergebnis. Also gut,
das war wahrscheinlich ein Zeichen, gab es denn nicht andere Autorinnen mit
zeitgenössischen Inhalten, die mich interessierten und die ich vielleicht schon
immer hatte lesen wollen? Und da fiel mir Christa Wolf ein, sie würde das
OstWestThema berühren und war es nicht ihre Figur Kassandra gewesen, die mich
damals in den 80ern so tief beeindruckt hatte? Auch hatte ich einige Reden anlässlich ihres
Todes im Gedächtnis und einen ihrer späten Texte ungelesen auf meiner
Festplatte – wie hieß nur das letzte Buch, das in Los Angeles spielte und das ich
aus Geldmangel nicht zu kaufen gewagt hatte? Genau: Stadt der Engel! Es war
nicht ausgeliehen und stand unter dem Buchstaben W ganz unten im vorletzten
Regal. Wie eine Beute trug ich es zusammen mit dem Graffitibuch zur Ausleihe,
ließ mir die dazu notwenigen Schritte erklären, verstaute beide in meiner Tasche
neben der Mitschrift aus dem Symposium und fuhr nach Hause.
Das war gestern und heute früh am Küchentisch schlug ich es
auf und wurde bald von eben jener Aufregung ergriffen, die sich einstellt, wenn
Inhalte etwas mit mir zu tun haben.
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