Der Arzt hielt die Pinzette direkt vor meine Augen, obwohl ich
auf die Frage „Möchten Sie ihn sehen?“ mit einem „Nein“ geantwortet hatte. Ich
wollte den Stein nicht sehen. Weshalb setzte er sich darüber hinweg? Hinter der
Pinzette sah ich sein Gesicht. Er freute sich, das war unübersehbar. Er war
begeistert und stolz. Seinen Stolz konnte ich nachvollziehen. Er hatte eine
schwere Aufgabe gut gemeistert. Bei der Formulierung ‚schwere Aufgabe‘ kommen
mir die Tränen, aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht aber auch
nicht. Jedenfalls hatte er sein Können unter Beweis gestellt, gegründet anfangs
auf die besten Schulnoten als Zugangsvoraussetzung zum Studium, dann auf den sicher
herausragenden Abschluss, gefolgt von den Jahren der Praxis, bis zu seiner
jetzigen Stellung als rechte Hand des Professors. Dieser erschien im weißen
Kittel, um seine erfahrenen Augen auf das Werk zu richten, um es zu prüfen und
dem künftigen Nachfolger Lob zu zollen. Mich bedachte er ebenfalls mit Lob.
„Sie haben ein wirklich außerordentliches Exemplar. Darf ich Sie beglückwünschen?“
Zu der rhetorischen Frage schüttelte ich den Kopf, ein wenig nur, weil mir
alles weh tat, und weil der Schnitt noch vernäht wurde. Ein letztes Mal zog die
Nadel am Faden aus meinem Mund und mit einem kleinen Sirren zerriss die
Spannung, als die Schere ihn abtrennte. Mein Kiefer löste sich etwas aus seiner
Starre, mein Körper hatte sich der Form des OP-Stuhl ergeben. „Und Sie wollen
ihn wirklich nicht haben?“ Ich schloss die Augen. „Dürfen wir ihn dann in
unsere Sammlung aufnehmen?“ Ich nickte kurz, ohne ihn anzusehen. Sicherlich
freute er sich. Ich war nicht stolz auf diesen Stein, der sich in meinem rechten
Speichelgang gebildet hatte. Er hatte sich Molekül für Molekül zu einem kleinen
festen Klumpen geformt, dann in den Jahren, als es mir schlechtging, als ich so
viel zu schlucken hatte, als ich oft und oft innerlich in Starre verfiel, als ich meinen
Mund nicht mehr aufbekam, als mir die Spucke wegblieb, in diesen Jahren war er
Schicht für Schicht zu einem Stein gewachsen. Dieser Stein, der in meinem
Speichelgang so groß geworden war, dass er nicht mehr herausfand, so wie ich
nicht mehr herausfand aus dem Leben, das ich mir gewählt hatte, mahnte mich, er
verursachte mir Schmerzen, er zwang mir den Weg zum Arzt auf bis hin zu dem Tag
der Operation. Wahrscheinlich hatte der Stein es von Anfang an darauf angelegt,
in die Sammlung der Universität aufgenommen zu werden. Es war ihm gelungen.
©Barbara Biegel2018
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