Die graue Königin
Meine Anreise dauerte lange und zunehmend
fühlte ich mich in das Buch vom Herrn der Ringe versetzt. Nach der Ankunft befand
ich mich in einem kleinen Städtchen, das am Rande eines großen Waldgebiets
gelegen war. Ich hatte geplant, im Bahnhof bei einer Tasse Kaffee zu warten,
bis es Zeit für das Treffen wurde, doch das Bahnhofsgebäude war
heruntergekommen und verrammelt. Mir blieb nichts anderes übrig, als in den Ort
zu laufen und mir ein Café zu suchen. Vom Bahnhof aus folgte ich einer stark
befahrenen Straße und musste noch eine Art Kanal überqueren, an dem die
Fahrbahnen rechts und links vorbeigeführt wurden wie in der Stadt im Süden, in
der mein Kind lebte. Das schien mir ein gutes Zeichen. Nach einem
Kreisverkehr traf ich auf das Haus, ein altes würdiges Gebäude, gegenüber ruhte
entlaubt der Schlosspark, begleitet von einer langen Mauer. Häusern mehrten
sich wieder an einer gesichtslosen Kreuzung, hinter der die Altstadt begann.
Das fehlende Stadttor schien unsichtbar seinen alten Platz zu behaupten und hatte
der Hauptstraße befohlen, um den Kern der Stadt einen weiten Bogen zu machen. Unvermittelt
begann das Kopfsteinpflaster. Freundliche Häuserzeilen mit kleinen Läden
säumten es, junge Frauen mit Kinderwägen, gut gekleidete, städtisch wirkende
Passanten und alte Leute belebten die Gehsteige. Ich lief neugierig weiter, sah
in die Gassen und Seitenstraßen und gewann den Eindruck einer munteren
Kleinstadt.
Mit großen, bis zum Boden reichenden Fenstern lockte mich ein Café,
es zu betreten. Im Inneren fand ich einige Gäste, meist ältere Paare und eine
Theke, die auf einem Podest den Raum bestimmte und wie abgeriegelt erschien,
voller Gegenstände und im Dunkel gehaltener Winkel. Wie ein Wall verbarg sie
das Verkaufspersonal, ich hörte mehrere Frauenstimmen und zwei bis drei
Männerstimmen, die sich lebhaft Stichworte und Witze zuwarfen, der Dialekt war schwer verständlich. Ich nahm an einem kleinen
Seitentisch Platz und hoffte, ich wäre gesehen worden und würde bedient werden.
Überall leuchtete rotweißer Karostoff, auf den Tischen und Sitzkissen sowie an
den Vorhängen. Im Radio lief Musik aus den 80ern. Eine große fleischige
Bedienung kam und nahm freundlich meine Bestellung auf, ihre rot gefärbten
Haare standen nach oben und zu den Seiten ab und hatten sich platt an den Hinterkopf
gelegt. Das Geschrei hinter der Theke nahm zu, ‚ein munteres Völkchen‘ wäre
eine zutreffende Beschreibung gewesen. Ohne die Gäste zu beachten, lief der
dicke tätowierte Mann mit weißer Schürze und kurzen struppigen Haaren an die
Tür und sah einem Passanten nach. Nach hinten rief er: „Er geht weiter, zum
Glück!“ Dann verschwand er wieder im Hintergrund, wo es für einige Momente ruhiger
wurde. Eine weitere Fremde betrat den Raum, daran erkennbar, dass sie an der
Theke fragte, ob man bedient würde oder am Tisch bestellen könnte. Sie setzte
sich mit dem Rücken zur Scheibe und beschäftigte sich mit ihrem Handy. Ohne die
Mütze sah ich ihr Alter deutlicher und ich sah mich, eine kleine schmale Frau
mit kinnlangen grauweißen Haaren, wie in einem Spiegel, nur aufmerksamer,
eine Chronistin, die sicher war, einmal über das kleine Völkchen und die
Umstände, in denen es lebte, Zeugnis ablegen zu müssen.
Der
Kuchen war erstaunlich gut, als ob muntere Leute wie diese nichts anderes als
lustige, gemütliche Genießer sein konnten. Dann brach ich auf und ging den Weg
zurück, bis zu dem Haus, in dem ich auf die weise Frau treffen sollte. Mit
klopfendem Herzen drückte ich gegen die Haustür und stieg das Treppenhaus hoch.
An keiner Tür war ein Schild angebracht. Ratlos stand ich im obersten Stockwerk
und wollte schon wieder umkehren, als sich eine Tür öffnete und ein kleiner
nachdenklich wirkender Mann mit gebräuntem Gesicht und dünnem grauen
Pferdeschwanz heraustrat. Er sah mich an und plötzlich erleuchtete sich sein
Gesicht, er strahlte mich an wie ein Verbündeter, liebevoll und nachsichtig,
und wies auf die ins Schloss gefallene Tür. „Sie sind richtig. Hier ist es!“
Ich bedankte mich, er lächelte mir warm zum Abschied zu und ging die Treppe hinunter.
Nach einigen Minuten, als müsse ich mich innerlich vorbereiten, klingelte ich
und kurze Zeit später sah ich mich einem weiblichen Gandalf gegenüber, einer
großen, schlanken Frau mit kurzen grauen Haaren und blaugrauen Augen. Sie
begrüßte mich forschend, gab mir die Hand und ließ mich eintreten.
Es würde
schwer sein, sie zu überzeugen, dass sie sich irrte, das sah ich gleich.
©BarbaraBiegel2020
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