Samstag, 6. August 2022

Das Sakko


 

Ein neuer Gegenstand ist in unserer Garderobe eingezogen und hat auf einem der gediegenen Holzkleiderbügel Platz genommen. Das Sakko ist uns in München begegnet. Ich hatte S. überredet, auf dem Weg zum Bahnhof die Gelegenheit zu ergreifen und eines der großen Kaufhäuser aufzusuchen. Oft hatte er sich beklagt, für Auftritte oder Festlichkeiten keine angemessene Jacke zu besitzen. Im ersten Kaufhaus, in das wir gingen, wurden zwar einige Exemplare anprobiert, aber eines, das ‚sofort einschnappen‘ musste, wie S. befand, war trotz ausgiebiger Beratung nicht dabei. Immerhin gewannen wir einen Überblick über kurz- oder langgeschlitzte Rückenpartien, Stofffarben und -qualitäten und auch die Größe stand fest: Größe 50. Wir verließen das labyrinthische Gebäude und fanden gegenüber ein zweites Kaufhaus, hatten nur noch mithilfe einer Unterführung eine Absperrung zu überwinden und begaben uns, nun schon mit mehr Wissen ausgestattet, in die Herrenabteilung. Sofort fiel S. ein Sakko auf einer Schneiderpuppe ins Auge. Gleich daneben fand er das Modell in seiner Größe und schlüpfte hinein. Es passte wie angegossen und es gefiel ihm sehr, das sah man gleich. Es wurden noch weitere anprobiert, aber kein anderes kam in Frage. Dann endlich der Blick auf das Preisschild: 220 Euro. Eigentlich zu viel. Das sprach ich aus, mit einem „aber“ hinterher. Denn es war wenig wahrscheinlich, dass wir noch in ein weiteres Geschäft gehen oder ein ebenso gutsitzendes Sakko für weniger Geld finden würden. S. überlegte und schien es wieder auf den Bügel hängen zu wollen. Da bot die Verkäuferin an, sie könne 10 Euro Nachlass gewähren. Zu zweit sprachen wir Frauen uns für den Kauf aus und S. kapitulierte, aber ich sah, dass es ihn freute, als wir hinter der Verkäuferin, die das Kleidungsstück auf dem Arm trug, zur Kasse gingen. Wir warteten, bis eine mehrköpfige indische Familie ihre Bezahlung abgeschlossen hatte. Ich spielte mit dem Baby auf dem Arm der Frau Verstecken, während die Verkäuferin das Preisschild des Sakkos löste und S. hinein half. Er hatte es gleich anziehen wollen. Sie hielt das Schild dem Auszubildenden an der Kasse hin, einem höflichen Menschen mit dunkler Hautfarbe, gewinnendem Lächeln und leichtem Akzent, sie sagte: „110 Euro“. Er fragte nach: „110?“ „Ja“, sagte sie, verabschiedete sich und wünschte uns noch einen guten Tag. Langsam drang die Zahl in mein Bewusstsein. Inzwischen hatte S. die Quittung in der Hand. Wir gingen und er sagte langsam: Sag mal, hat sie 110 gesagt? Wir hatten 100 Euro gespart! Mein erster, ziemlich lang anhaltender Impuls war Freude. Und auch S. gestand später, er habe zunächst an nichts anderes gedacht, als schnell das Kaufhaus zu verlassen. In der ersten Nacht schon träumte er von Schuld und beim Frühstück holten wir den Kassenzettel aus dem Altpapier, glätteten ihn und stellten fest, dass Artikel, Verkäuferin und Abteilung zweifelsfrei festgestellt werden konnten. Ich sagte: „Jeder macht mal Fehler, der Fehler ist passiert. Was willst du tun?“ „Wenn ich vor Ort wäre, würde ich das Geld hinbringen“, sagte er. Aber München war weit und es brachte nichts, im Konzern anzurufen. Wir überlegten hin und her, fürchteten, es würde Konsequenzen für die Angestellten haben, aber es half nichts, wir waren nicht vor Ort. Und so lernten wir, mit dem Betrug zu leben. Mit der Zeit verblasste er, ähnlich dem gemusterten Gewebe an den Ellenbogen, das sich bereits nach wenigen Gelegenheiten, in denen es getragen wurde, aufscheuerte.

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