Freitag, 29. August 2025

Nach dem Todestag

 

In den Bergen, zum elften Todestag

 

16.08.2025

Ein Stück ferner gerückt war sie diesmal, die Trauer, etwas hatte sich verlagert. Zum Wasser, zum Fließen hin, zumindest für mich. Ein Eintauchen, anders als die alles erschütternde Begehung der Karwendelspitze im Vorjahr. Auch mein Alter habe ich gespürt, die ersten körperlichen Grenzen. Nach der Almtour das ganze System ruhebedürftig :-). Dafür gestern viel Sonne und den Sommer in der Haut gespeichert.

Der Abend auf den Balkon bei Wetterleuchten, beeindruckend wahrnehmbar der nahende Wetterumschwung. Nach einer Stunde Schlaf wurde ich vom Trommelwirbel einzelner Regen- und Hagelschläge aufgeweckt. Später kam auch meine Tochter auf den Balkon. Regengüsse und Blitze. Das Gewitter im Talkessel. Eine unruhige Nacht.

Um 7 Uhr vom Regen aufgewacht. Auch vom Donner. Ich trinke Kaffee auf dem Balkon und sehe auf der Karwendelspitze einen Blitz einschlagen, der sich teilt und kurz direkt an der Stelle stehenbleibt, an der sich die Bergstation befindet. Himmel und Erde berühren sich.

 

17.08.2025

Wieder in der Küche, nach der Zeit in den Bergen. Ich warte, dass mein Bad frei wird. Dann gehe ich duschen. Ich wasche mir den Staub und Schweiß der Rückreise ab. Die Busfahrt nach Klais, die beengte Zugfahrt nach München, die angenehmere Regionalfahrt nach Nürnberg, die Stunde Wartezeit mit I. hinter dem Bahnhof, nachdem wir durch den Fußgängertunnel gelaufen sind, den sie mit ihrem Bruder schon einmal passiert hat. Am Ende die Zugfahrt im RB12 nach Hause und nach der Ankunft der Gang in der Dämmerung über die Höhe. Ich war traurig, dass die Woche vorbei war, die schöne, innige Zeit mit meiner Tochter, das Den-ganzen-Tag-Draußen-sein.

Nach dem Duschen kehre ich zu meiner angefangenen Tasse Kaffee zurück. Vom Fenster aus sehe ich überraschend viele Vögel die Umgebung des Hauses nach Nahrung absuchen. Meisen hüpfen in der Dachrinne herum, ein junges Rotschwänzchen turnt über Stühle und Tisch am Vorplatz, Spatzen fliegen den Zwetschgenbaum an. Nach einiger Zeit setze ich mich an den Tisch zu den Collagen, die ich so zurückgelassen habe, wie sie waren, unfertig, mitten im Prozess. Ich bin traurig und spüre den Druck, anzukommen und Freude daran zu finden. Ich betrachte die oberste kleine Collage auf dem improvisierten Stapel und die ausgebreiteten Schnipsel auf dem Tisch. Das, was ich da vor der Abfahrt gelegt habe, ist nicht gut. Viel zu beliebig, zu unruhig. Die aufgelegten Ausschnitte haben gar nichts mit der ursprünglichen Zeichnung von CasparDavidFriedrich zu tun. Was hat er da eigentlich gezeichnet? Eine Landschaft im Riesengebirge? Eine Figurenstudie?

Nein - plötzlich ist die Verbindung da:

Auf der Zeichnung befinden sich ein Fels und ein Baumstumpf – genau die Dinge, die uns die letzten Tage so berührt und begleitet haben. Ich nehme meine aufgelegten Papiere weg und sehe, wie schön das Blatt ist. Ich lese die Bezeichnung:

 

Fels und Baumwurzel

Dat.: den 12 t August (18)99, Feder. Seite 12

 

An einem 12. August starb mein Sohn.

 



 

 

 

Donnerstag, 17. Juli 2025

Vögel und mehr

 

Ich weiß noch, wie glücklich und überrascht ich war, als vor fünf Jahren im ersten Frühling in V der Gesang einer Nachtigall zu unserem Balkon emporstieg. Sie wohnte unten an der Mühle und war nicht die einzige im Umkreis, ich fand bald drei oder vier Stellen, die ich aufsuchte, um Nachtigallen zu lauschen. Sie hatten zu den Wundern in J gehört und nach Jahrzehnten waren diese Vögel auf einmal wieder im Zenntal zuhause. Heute, fünf Wochen nach meinem erneuten Umzug, öffne ich das Küchenfenster und höre den Ruf des Pirols. Auf diese scheuen Vögel hat mich mein Mann aufmerksam gemacht, vor zwanzig Jahren etwa, auf einer Radtour durch das Saaletal, unweit von Naumburg. Er konnte ihre besondere Melodie perfekt pfeifen. Im Lauf unserer Fernbeziehung fanden wir sogar eine Stelle in Franken, an der dieser Ruf zu hören war. Mehrmals radelten wir mit den Kindern in das kleine Wäldchen unweit eines Weilers. Einmal in all den Jahren hat sich mir einer dieser scheuen Vögel gezeigt, amselgroß und leuchtend gelb. Das machte mich glücklich. Nun ist also nach der Nachtigall auch der Pirol mir gefolgt und ruft mich nicht nur von meiner Vogeluhr aus an, sondern ‚live‘ und erinnert mich an meinem neuen Zuhause an das, was früher geschah. Dazu ruft der Falke, auch ein Bote zwischen den Welten.

Ich lese das Buch „In die Wildnis“ von Jon Krakauer über den jungen Mann, der nach Alaska ging, wie „vielleicht ein Pilger“, wie es heißt. Auf der Suche nach Wahrheit und Schönheit kam er dort ums Leben. Ich lese von einer Reihe an Beispielen junger Männer, die auf der Suche waren oder glaubten, sich diesen Raum einfach nehmen zu können. Ihr Umgang mit der Einsamkeit macht mich betroffen. Trotz größter Fitness und Stärke wird der Beweis nicht gelingen, ein Leben wie in der Steinzeit führen zu können, solange man alleine ist. Dass der Mensch ein soziales Wesen ist, scheint bei allen fast völlig aus dem Blick geraten zu sein. Nur das Tagebuch wird zu einem Gegenüber, zu einem Ort, an dem die Sprache Worte für Gefühle findet und ausdrückt. Von der Allgemeinheit als Spinner bezeichnet, rührt mich ihre Suchbewegung und Konsequenz, ihre Weigerung, sich Normen zu unterwerfen, ihre Klarsicht, wie die sogenannten zivilisierten Gesellschaften dabei sind, die Erde zu zerstören. Ich fühle mich ihnen nah, was die Begegnung mit der Natur angeht, ihrer unfassbaren Schönheit und überwältigenden Wundern.

Teil der Natur zu sein, ist für mich eine tiefgehende Erfahrung, die auf einer mentalen Verbindung gründet und überall gefunden werden kann. Es braucht nur Hingabe und Ruhe, einen offenen Blick, eine aufnahmebereite Nase und geöffnete Poren. Im Buch ist von einem Aufstieg auf einen Berg zu lesen, begleitet nur von „Wind, Schnee und Tod“. In dem Moment, in dem wir eins werden mit dem was ist, ist die Grenze aufgehoben, trotz aller Angst. Wie schade, dass diese jungen Männer ihre Erfahrungen nicht weitergeben konnten. Wie sehr würde ihre Anleitung, im Freien zu sein, Geist und Körper aller Altersstufen lehren, achtsam zu sein und so dazu beitragen, der Erde liebevoller zu begegnen.

 


Samstag, 24. Mai 2025

Die Kunst, es anders zu machen

 

 

Lebenslinien im BR: Die Kunst, es anders zu machen

Eine Dokumentation von Julia Grantner

 

Der Film über meine Freundin Bernadette hat mich sehr berührt. Ihr Gesicht, ihr Lachen, ihr Humor und ihr Wortwitz, ihre Geschichte. Vor über 40 Jahren haben wir uns an der Kunstakademie kennengelernt. Zwischen unseren Treffen konnte viel Zeit vergehen, als Ersatz gab es Briefe. In der Kameraführung des Films finde ich etwas von der Art unserer Beziehung, manchmal über die Ferne, zwischen Gräsern hindurch, manches in Ruhe betrachtet und geteilt, aber unausgesprochen.

Beim Anblick des Hauses, in dem ich sie einige Male mit den Kindern besucht habe, werde ich in eine Zeit versetzt, in der wir gemeinsam versuchten, Kinder und Kunst unter einen Hut zu bringen und uns in einem Haus, in einem neuen Leben einzurichten, sie an der Donau, ich an der Zenn. Unsicherheiten, Existenzängste, aber auch die Fähigkeit, mit der Kunst Geschehnisse zu verwandeln sowie innere Stärke haben uns begleitet. In den Briefen, die sie mir damals schrieb und die ich aufgehoben habe, finde ich Kreativität, Witz, Erkenntnisse und Appelle, die Mutterrolle mit Selbstbewusstsein auszuüben, zum Wohl der Kinder. Früh macht Bernadette mir die politische Dimension sichtbar, kritisiert Konsum- und Konkurrenzdenken, die vom Eigentlichen ablenken und innere Entwicklungen verunmöglichen. Im Strudel des Alltags haben mich ihre Botschaften damals wenig oder gar nicht erreicht. So haben wir alle unsere blinden Flecken und unsere Kinder ihre eigene Geschichte, von Anfang an.

Das uralte Haus mit den Papiersternen in jedem Fenster mochte ich gern. Besonders den Baum davor, der nach wie vor seine Schatten auf die helle Fassade wirft. In der Küche hatte Bernadettes Mann den Boden unter den Dielen ein Stück ausgegraben, neu gedielt und so für mehr Raumhöhe gesorgt. Abends ging jemand nach draußen und schloss die Fensterläden für die Nacht. Im Gang roch es nach selbstgemachtem Käse, der Badeofen wurde mit Holz beheizt, die Zimmer wirkten dunkel und geheimnisvoll mit all ihren besonderen Gegenständen. Es gab einen winzigen Hinterhof mit etwas Grün. Über allem wachten die Augen einer Katze mit getigertem Fell.

Hinter der nächsten Häuserzeile strömte die Donau und wenn man die große Brücke überquerte, kam man nach einem im Wald steil ansteigenden Pfad zum Sieben-Brückerl-Weg, einem meiner Lieblingsorte. Mit etwas Glück zeigen sich Flusskrebse im Glimmersand und jede der Brücken über den klaren Bach zeigt ihre Ziffer her, auf der Bernadettes Sohn damals kontrolliert hat, ob es auch wirklich sieben Brücken waren.

Dann der Kontrast nach Bernadettes Trennung und Auszug. Die neue Reihenhaus-Wohnung, alles lichter und luftiger, wir saßen auf dem Sofa und lachten über „Ice Age“, im Nachhinein kann ich die Anspannung erkennen, die die ganze Familie ergriffen hatte. Eine ganz eigene Welt bot das Atelier, man betrat es in einer schmalen Altstadt-Gasse, die zum Fluss führte, stieg die vielen Treppen hinauf bis in das geräumige Oberlicht-Atelier, das Farbe und Freiheit atmete. Immer gab es Figuren in Bernadettes Malerei. Ich liebte die frühen Pastellkreide-Arbeiten auf Sandpapier, die mit ihrem dichten Farbauftrag zeitlose Innigkeit heraufbeschworen, Vater/Mutter/Kind, fast religiös erzählten sie von der Sehnsucht nach Heil- Sein, nach Ganz-sein. Die Schwingungen der Farben, die einem so viel Kraft geben können, mäandern durch den gesamten Film und tauchen alles in Wärme. Ein starker Kontrast zu dem tieftraurigen Kindergesicht auf den Schwarz-Weiß-Fotografien der 60er Jahre. Eingefangene Vergangenheit wie die winzigen Schneckenhäuser in ihrem kleinen Glasfläschchen im Atelier, bei dessen Anblick meine Sammelleidenschaft nach diesen nur in der Donau vorkommenden Wasserschnecken erwachte. Beim letzten Besuch vor zwei Jahren ließ mich der Fluss viele von ihnen finden.

In der Dokumentation kann ich sehen, wie sich das künstlerische Werk verdichtet hat, wie Künstlerin und Werk sich angenähert haben, beide kraftvoll, beide zart, beide Körper und bewegend, beide mit Tiefe. Mein Bild von ihr, eine gute Mutter gewesen zu sein, hat sich nicht ins Gegenteil verkehrt - ihre Kinder haben eine wunderbare Ausstrahlung und liebevolle Art.

Ein ruhiger Film in warmen Farben und mit weichem Licht, der einem Zeit lässt und mit der Erlaubnis, uns selbst zu verzeihen, ins Offene führt.


Freitag, 25. April 2025

Die Tonaufnahme


 

 

Ich komme nach Hause und mache weiter mit den Listen. Ich nehme Gegenstände im Zimmer meines Mannes in die Hand und entscheide über ihr Schicksal. Ich werfe einen Blick in den Karton mit dem Dat Rekorder von Sony, den er Mitte der Neunziger Jahre für eine damals große Summe gekauft hat. Darin sind auch noch das Netzteil und drei kleinformatige Kassetten. Ich drücke den winzigen OPEN-Schalter nach rechts und das Deck öffnet sich. Ich stecke die Kassette hinein, auf der „Klanglandschaft Darss 2006“ steht. Ich schließe das Fach, setze die Kopfhörer auf und drücke die PLAY-Taste. Ich höre die Abfahrt eines Zuges und Lautsprecherdurchsagen. Dann fährt der Zug in einen Bahnhof ein, die Türen öffnen sich und ich bin in Warnemünde. Als nächstes fahre ich mit dem Rad durch einen Wald, höre Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes in den Bäumen, bis das Rad abgestellt wird – deutlich ist das Klacken des Ständers zu hören. Begrüßungsworte an einer Rezeption ertönen. Im Hintergrund spielen Kinder im Freien, dann ein erneutes Klacken und ich weiß, das ist der Türgriff des alten Eisenbahnwaggons auf dem Gelände der Jugendherberge im Darsswald. Ich sehe den Ort vor mir, an dem wir uns vor über 20 Jahren kennengelernt haben. Jeden Sommer nahm mein Mann dort Quartier, oft für vier Wochen. Lachen, Stimmengewirr und Tellerklappern sind zu hören, bis das Rad wieder durch den Wald bewegt wird. Dann Schritte, wohl auf Kies. Doch bald erkenne ich, wo sich mein Mann befindet: Er läuft durch die Dünen zum Strand. Das Rauschen des Meeres wird laut und lauter. Er ist angekommen. Ich sehe die Bilder der Seebestattung vor mir und drücke die STOP-Taste.

Ich wünschte, ich könnte das Leben zurückspulen.

 

©BarbaraBiegel2025

Donnerstag, 17. April 2025

Be-Deutungen

 

Ich hätte nie gedacht, dass mir der Garten einmal so viel bedeuten würde. Schon als ich ihn das erste Mal sah, kam mir Händels Text in den Kopf:

Ev'ry valley shall be exalted, and ev'ry moutain and hill made low; the crooked straight and the rough places plain.


Ganze Tage verbrachte ich in der Hütte, zwischen Gewächsen, die jemand vor langer Zeit gepflanzt hatte. Vertraut mit den Besuchern des Gartens, ihren Gesängen, Fährten und Losungen fühlte ich mich als Teil der Natur. Und lernte von ihr.

Über allem lag die Wolkendecke, manchmal leicht, manchmal dicht und schwer.

Hütte, Bett, Ofen und Kerzenwachs begleiteten mich durch die Nächte. Der Fuchs lief am Zaun entlang und warf Blicke durchs Fenster. Der einzige Hase der Gegend stattete der Wiese Besuche ab und über allem leuchtete der Goldregen. Mäuse tanzten mir auf dem Kopf herum, wenn ich einen Brotrest im Regal vergessen hatte. Die Schlange zeigte sich, wenn ich sang. Sie kroch unter der großen alten Ligusterhecke hervor, die sich im Lauf der Zeit, von niemandem beschnitten, zur Seite geneigt hatte und sowohl die Hütte als auch das Lagerfeuerrund vor aller Augen verbarg. Zusammen mit Waldkauz und Mond betrachtete ich die Flammen, bis zuletzt das rote Glühen im Steinrund übrigblieb: Die Große Stadt. Wer war dort noch auf, in welchen Vierteln funkelten noch Lichter?

Vor dem Schlafengehen ging ich die paar Stufen zu dem einzeln stehenden Klohäuschen hinunter –bei offener Tür konnte man in das Grün des Waldes schauen. Darüber zeigten sich nach Einbruch der Dämmerung in immer wieder neuer Position die Sterne: das Sommerdreieck, der Große Wagen, der Jäger Orion.

Und ich erinnere mich. Auf dem Klo sitzend wiederholte ich leise vor mich hin singend in einer beschwörenden Bejahung die Zeilen Händels: we shall all be changed.

 

©BarbaraBiegel 2025