Sonntag, 7. April 2024

Unterwegs

 

Im Zug hinaus aus Freiburg, in Richtung Norden. Draußen vor dem Fenster die Vogesen, mit Colmar, der Stadt, der wir vor zwei Tagen einen Besuch abstatteten. Colmar, mit seinem Grünewaldaltar, mit seiner Madonna im Rosenhag von Martin Schongauer, mit seinen gestutzten Platanen und den vielen Störchen, die auf ihnen brüten und auf die die Stadt so stolz ist, dass es sie in vielfacher Ausführung als Plüschtier zu kaufen gibt. 

 

 

Ich fahre rückwärts und behalte die Berge des Schwarzwalds im Blick. „Abschied nehmen, keine leichte Aufgabe“, das sagte und schrieb schon mein Sohn, als er den ganz großen Abschied noch nicht ahnen konnte.

 

 

Draußen die mächtigen Silhouetten der Mammutbäume und über den Bergen eine am Rand löchrige Wolkendecke.

In meinem Rucksack, gleich über dem Stapel getragener Kleidungsstücke, reist ein kleiner roter Elefant mit, verziert mit goldenen Mustern. Golden war so vieles in den letzten Tagen. Der Farbton im Musikvideo Beyoncés, der Schmuck im Schaufenster hinter uns, als wir auf die Straßenbahn warteten, der smaragdgrün schimmernde Käfer auf dem Gehweg. Golden erglühten die Baumkronen, als abends nach einem kalten, grauen Tag die Sonne im Westen noch einmal ihre Strahlen ausschickte, bevor sie hinter den Vogesen unterging. Silbern glitzerte das Wasser der Dreisam. Auf der Busfahrt nach Colmar dieser eigenartig flache Regenbogen, dessen große Leuchtkraft uns magisch anzog, und auch die Kristalle, die wir in einer Blechdose am Straßenrand fanden, erzählten von Licht. In der Büchertausch-Telefonzelle nahm ich sehr altes gummiertes Buntpapier mit, es entstand ein kleiner Klappaltar, ganz ohne Kleber.


 
Am Karfreitag die Unterbrechung der Stille durch das laute Ratschen der Ratschenkinder, am Ostersonntag die Begegnung mit dem Fluss und seinem verwunschenen Ufer. Erfüllend und nährend wie der ganze Aufenthalt.








Samstag, 16. Dezember 2023

Im Traum


 

 

Im Traum

 

Im Traum der Nacht hab ich die Saale gesehen

Nach herbstlichem Waldweg stieg meine Gruppe in freiem Gelände zu ihr hinab

Ich kannte den Weg, war ihn träumend ein paar Mal gegangen

Vergeblich damals, verwehrt war der Übergang

Und wirklich:

Die Saale kannte auch diesmal kein Ufer

Besonnt und mächtig lag sie im Bett

Nasse Gräben, bewachsen von grünfrischen Halmen

Und weiche Erde, auf der wir schwankten,

hielt sie bereit wie ein kluges Geschenk.

 

Der Fluss war der Meister und hielt uns auf Abstand

Die meisten der Gruppe blieben ihm fern.

Nur ich und das Kind, wir wagten uns weiter

Denn einst war es möglich, die Furt zu durchqueren,

Einmal sogar gelang mirs im Traum:

Das Gehen inmitten des Wassers war einfach und ohne jede Gefahr nahm ich Raum

 

Wieso die Spuren von Reifen hier enden? fragte das Kind.

Ich gab zur Antwort: Weil hier ein magischer Ruheort war.

Ob uns der Rückweg nun wieder hinauf führt? fragt es mit großen Augen erneut.

Ja, so ist es, sagte ich leise, um eine Erfahrung sind wir dann reicher und

mit einem Ja beginnt Leichtigkeit.

 

Beim Blick in das Wasser sahen wir Fische

Umgeben von Klarheit und voller Vertrauen in jegliche Tiefe

Aus ihren Kiemen sprossen noch Teile der Lungen

Bejahend war ihre Entwicklung im Gange

Lebendig und offen zugleich

 

Die Fülle und Vielfalt verschlug mir die Sprache

Ich ging in die Hocke, nahm das Kind auf den Schoß

Ich wies auf das Wunder und sprach von Verbindung

Und merkte sogleich, dass das Kind davon wusste.

Das so voller Mühe von mir Erkannte war ihm schon immer im Geheimen vertraut:

Wir sind nicht getrennt, nicht von Klarheit und Atem, nicht von Wasser und Berg, nicht von allen Geschöpfen

 

Und voller Liebe wachte ich auf

 

Sonntag, 23. Juli 2023

Fränkisches Freilandmuseum


 

Ich liebe die Malerei an den Fassaden, die Haltung der Bäume, das blankgescheuerte Pflaster, die glänzenden Steinfußböden, die Pflanzen der Bauerngärten, das Dröhnen des Mühlrads.

Ich fotografiere!

Oft Fenster, durch die das Licht einfällt. Fenster, die Ausblicke gewähren auf Felder, Zäune, Dachlandschaften, Höfe. Türklinken und farbige Scheiben. Schablonenmalerei. Stallgewölbe. Steine mit glänzenden Oberflächen, berührt von Füßen, Händen oder Tierkörpern. Ich fotografiere Betten, diese hölzernen rechteckigen Zufluchten mit weißer oder gemusterter Bettwäsche und Kissen. Ich fotografiere Holztische, die beständigen Begleiter über Jahrhunderte, einige mit Sternintarsien in der Mitte.

Weshalb kommen mir beim Betreten mancher Flure und Zimmer die Tränen? „Die wenigsten von uns wurden in Schlössern geboren ...“, so Dieter Wieland. Vielleicht klingt etwas in mir an aus längst vergangenen Zeiten. Mein Vorname kommt mir von zahlreichen Beschriftungen entgegen. Ich bin ein Kind des vorherigen Jahrhunderts. Ich habe ein altes Handwerk gelernt, das Buchbinden. Ich habe Schwalben in Kuhställen nisten und ein- und ausfliegen sehen. Ich habe vor mehr als dreißig Jahren auf diesem Gelände geholfen, in einem Workshop das Gefach eines Gebäudes mit Lehm zu füllen. In meiner Kindheit durfte ich vieles erleben, was hier museal konserviert wird. Heumachen, auf einem Traktor mitfahren, barfuß über ein Stoppelfeld laufen, Obst aufsammeln, Kaninchen füttern. In meinem Rucksack trage ich die ersten ausgesammelten Kornäpfel. Ich liebe die Bodenhaftung der Häuser und die niedrigen Durchgänge. Im Keller meines Elternhauses gibt es sie noch, die niedrigen Türstürze, an denen sich Besucher und Handwerker den Kopf anstoßen. Ich liebe die schlichte Schönheit der Gebrauchsgegenstände, ihre Oberflächen aus Holz, Ton und Glas. Ich bin als Kind auf solch einer schmalen Holzbank gesessen wie auf diesem Gelände. Ich bin in Verbindung mit einem Faden, der ins Heute reicht, atme tief den Duft des Lindenlaubs um mich ein. Wind lässt die Äste über mir rauschen, die kleinen Kugelfrüchte tanzen.

Nach vielen Bildern, nach einem Auf und Ab von Gefühlen, nach Nachdenken über Verlust beim Betrachten von sogenannten Seelenlöchern in der Wand, durch die die Seele das Haus verlassen kann, nach einigen Regentropfen vom zwischendurch grauen Himmel und nach etlichen heftigen Windböen sitze ich wieder neben der alten Steinbrücke über die Aisch. In wenigen Minuten schließt das Museum, die Sonne kommt durch. Silbern glänzt mein Ring auf, während ich schreibe. Herzhaft der Geruch fränkischer Bratwürste, Stimmengewirr. Ich stehe auf und gehe angefüllt mit Bildern durch das große Tor hinaus.









 

Donnerstag, 22. Juni 2023

Eine kleine ältere Frau

 

 


Eine kleine ältere Frau mit kinnlangen grauen Haaren, sie mag Ende Fünfzig, Anfang Sechzig sein, geht mit schnellem Schritt auf dem Fußgängerweg durch die Senke, die den Ort in zwei Hälften teilt. Ihr Körper ist der eines Mädchens, eher stämmig als zierlich, ihrem Schritt sieht man an, dass sie gewohnt ist, weite Strecken zu laufen. Sie trägt einen hellen Rock aus fließendem Stoff, der ihr gut steht, dazu ein türkisfarbenes Oberteil und Turnschuhe, und sie strahlt etwas Frisches, Jugendliches aus. Auf eine besondere Art wirkt sie frei, ihr Gang hat etwas Zuversichtliches, Brustkorb und Schultern sind entspannt, aufmerksam wandert ihr Blick über Wiesen und Häuser. Auf der Brücke über den Fluss bleibt sie einen Augenblick stehen und beugt sich über das Geländer, wechselt auch auf die andere Seite und sieht hinab. Als eine Elster auffliegt, verfolgt ihr Blick ihren Flug bis in die Krone der absterbenden Erle. Dann setzt sie sich wieder in Bewegung und wendet sich dort, wo der Weg die Straße kreuzt, nach rechts. Zu so früher Stunde ist sie sicher auf dem Weg zur Arbeit, vielleicht auch zum Bahnhof, er liegt nur fünfzehn Minuten entfernt. Sie verschwindet hinter dem ersten Haus – und da kommt mir auf einmal ein Bild in den Sinn. Blaues Gletscherwasser strömt von den Bergen herab. Es ist klar und durchsichtig und bildet zwischen schweren, rundgeschliffenen Felsblöcken Strudel. Auf einem dieser Strudel kreist hingebungsvoll ein Blatt.

 

©BarbaraBiegel23