Sonntag, 5. Juli 2020

Zuversicht



Nach dem Film über Oberfranken von Annette Hopfenmüller im BR– man nennt es jetzt Hochfranken, um deutlich zu machen, dass dieser Landstrich das verstaubte Image längst abgelegt hat – konnte ich lange nicht einschlafen. Als mein Mann nach dem Ausschalten des Bildschirms gähnte und meinte: „Ja, wenn man die Märkte in Asien bedient, dann kann sowas schon klappen“, hatte ich gestutzt und gerufen: „Aber es ging doch gar nicht um asiatische Märkte, nur bei einem Beispiel vielleicht, da ging es doch darum, dass man seine Träume verwirklichen kann.“
Das war es vermutlich, was mein Herz hatte schneller schlagen lassen. Mir fiel plötzlich der alte Plan wieder ein, fünf Jahre war es bestimmt schon her, wenn nicht sechs oder sieben, dass ich daran gedacht hatte, meine kleinen Kunstwerke in einem Abbruchhaus zu filmen, plötzlich standen die Bilder ganz klar vor mir: meine Augenöffner aus Holunderholz würden an ästhetisch verblichenen Wänden, auf rauchblauem, verwaschenen Putz mit etwas Graffiti - für den urbanen Bezug - an kleinen Nägeln befestigt weite Flächen verzieren. Die großen, neuen Scheiben würden etwas mehr Raum beanspruchen, sie waren stark und zogen jetzt schon alle Blicke auf sich, die kleinen würden Schwärme bilden und mit ihrer Lebendigkeit wie die Wolken von Staren oder Fischen die Betrachter zum Staunen bringen.
So farbenfroh wie die Stoffe in der Textilindustrie oder den kleinen Manufakturen waren meine Arbeiten auch. Sie waren aus einem Naturmaterial, das überreich zur Verfügung stand, denn jeder Holunderstrauch brachte Totäste hervor, die kleinen und großen Exemplare meiner Scheiben waren mit Lebensringen und mit Worten geschmückt, sie brachten die Menschen in Verbindung mit Wurzeln und mit Schönheit, sie ließen sie nachdenken über Verbundenheit, sie gaben ihnen Zuversicht.
Dazu passte mein neues Buch, es war fast fertig und spielte in Oberfranken. Ich wünschte mir, die Nachricht der Literaturagentin würde bald eintreffen, die Nachricht, sie wäre begeistert von der Leseprobe und freue sich auf das Manuskript.





©Barbara Biegel2020

Freitag, 3. Juli 2020

Sterne Licht Blick



Fremde, noch nie gesehene zwei Meter hohe Blumen standen gestern am Wegrand, im schattigen Dunkel leuchteten sie wie Sterne, obwohl es um die Mittagszeit war. 

Abends schien die Sonne weit in das Dunkel des Waldes und erhellte den Weg.

Nachts  erleuchteten Rilkes Worte schimmernd, wie tanzende Glühwürmchen, meine inneren Räume .



An Franz Xaver Kappus
 
Borgeby gård, Flädie, Schweden,
am 12. August 1904

 ... Ich glaube, daß fast alle unsere Traurigkeiten Momente der Spannung sind, die wir als Lähmung empfinden, weil wir unsere befremdeten Gefühle nicht mehr leben hören. Weil wir mit dem Fremden, das bei uns eingetreten ist, allein sind, weil uns alles Vertraute und Gewohnte für einen Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten in einem Übergang stehen, wo wir nicht stehen bleiben können. Darum geht die Traurigkeit auch vorüber: das Neue in uns, das Hinzugekommene, ist in unser Herz eingetreten, ist in seine innerste Kammer gegangen und ist auch dort nicht mehr, - ist schon im Blut. Und wir erfahren nicht, was es war. Man könnte uns leicht glauben machen, es sei nichts geschehen, und doch haben wir uns verwandelt, wie ein Haus sich verwandelt, in welches ein Gast eingetreten ist. Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht. Und darum ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht. Je stiller, geduldiger und offener wir als Traurige sind, um so tiefer und um so unbeirrter geht das Neue in uns ein, um so besser erwerben wir es, um so mehr wird es unser Schicksal sein, und wir werden uns ihm, wenn es eines späteren Tages «geschieht» (das heißt: aus uns heraus zu den anderen tritt), im Innersten verwandt und nahe fühlen. Und das ist nötig. Es ist nötig und dahin wird nach und nach unsere Entwicklung gehen -, daß uns nichts Fremdes widerfahre, sondern nur das, was uns seit lange gehört. Man hat schon so viele Bewegungs-Begriffe umdenken müssen, man wird auch allmählich erkennen lernen, daß das, was wir Schicksal nennen, aus den Menschen heraustritt, nicht von außen her in sie hinein. Nur weil so viele ihre Schicksale, solange sie in ihnen lebten, nicht aufsaugten und in sich selbst verwandelten, erkannten sie nicht, was aus ihnen trat; es war ihnen so fremd, daß sie, in ihrem wirren Schrecken, meinten, es müsse gerade jetzt in sie eingegangen sein, denn sie beschworen, vorher nie Ähnliches in sich gefunden zu haben. Wie man sich lange über die Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest, lieber Herr Kappus, wir aber bewegen uns im unendlichen Raume.
Wie sollten wir es nicht schwer haben? 

...

Ihr:
Rainer Maria Rilke