Donnerstag, 22. Juni 2023

Eine kleine ältere Frau

 

 


Eine kleine ältere Frau mit kinnlangen grauen Haaren, sie mag Ende Fünfzig, Anfang Sechzig sein, geht mit schnellem Schritt auf dem Fußgängerweg durch die Senke, die den Ort in zwei Hälften teilt. Ihr Körper ist der eines Mädchens, eher stämmig als zierlich, ihrem Schritt sieht man an, dass sie gewohnt ist, weite Strecken zu laufen. Sie trägt einen hellen Rock aus fließendem Stoff, der ihr gut steht, dazu ein türkisfarbenes Oberteil und Turnschuhe, und sie strahlt etwas Frisches, Jugendliches aus. Auf eine besondere Art wirkt sie frei, ihr Gang hat etwas Zuversichtliches, Brustkorb und Schultern sind entspannt, aufmerksam wandert ihr Blick über Wiesen und Häuser. Auf der Brücke über den Fluss bleibt sie einen Augenblick stehen und beugt sich über das Geländer, wechselt auch auf die andere Seite und sieht hinab. Als eine Elster auffliegt, verfolgt ihr Blick ihren Flug bis in die Krone der absterbenden Erle. Dann setzt sie sich wieder in Bewegung und wendet sich dort, wo der Weg die Straße kreuzt, nach rechts. Zu so früher Stunde ist sie sicher auf dem Weg zur Arbeit, vielleicht auch zum Bahnhof, er liegt nur fünfzehn Minuten entfernt. Sie verschwindet hinter dem ersten Haus – und da kommt mir auf einmal ein Bild in den Sinn. Blaues Gletscherwasser strömt von den Bergen herab. Es ist klar und durchsichtig und bildet zwischen schweren, rundgeschliffenen Felsblöcken Strudel. Auf einem dieser Strudel kreist hingebungsvoll ein Blatt.

 

©BarbaraBiegel23