Montag, 28. Februar 2022

... van Gogh und andere

 

Nachts kam Imme in eine verwaiste Wohnung. Sie hatte Mons ihre Rückkehr nicht angekündigt. Sie nahm ein Bad und wusch sich alles ab, das Grau der Großstadt, die Huptöne, die Blicke der Entgegenkommenden und das Gefühl von Freiheit. Mons kam irgendwann nachts nach Hause und als sie aufwachte hatte er schon den Tisch gedeckt und Rosen gekauft. Er schien froh, sie wieder bei sich zu haben. Beim gemeinsamen Frühstück erzählte sie, lehnte sich dabei zurück und drehte den Kopf, so dass sie ein Stück Himmel am Rand des Japanpapiers sehen konnte. Sie ließ ihre Gedanken nur teilweise ans Licht. Manches war in Metaphern verpackt, in denen einiges zu lesen war, wenn Mons sie hätte deuten wollen. Sie erzählte von der Kunstausstellung und welche Bilder sie berührt hatten, besonders eines, ein riesiges quadratisches Farbkissen, dass der Maler mit flüssiger Farbe eingefärbt hatte. Die es umgebende Wand hatte den Rahmen erzeugt, durch den sie in diese Farbwelt eingetaucht war, in ein erd-rotes Vibrieren. Manche Nuancen lockten tiefer ins Innere, andere kamen ihr entgegen, doch an einigen Stellen, an dreien oder vieren, war Imme förmlich hinein katapultiert worden, und zwar an kleinen tiefblauen Bereichen, die als Himmel zwischen all dem irdischen Dasein aufblitzten.

„Klingt ja interessant“, meinte Mons. „Liebes, da bekomme ich direkt Lust, mit dir nach Amsterdam ins Van Gogh Museum zu reisen. Seine Farben leuchten unübertroffen.“ ‚Vincent‘, dachte sie. ‚Du weißt, ich mag dich. Auch deine Welt vibrierte. Doch das Andere trifft mich mehr ins Herz‘.

„Hm. Keine schlechte Idee.“ Sie schenkte Tee nach.

„Und woher kam der Künstler mit dem roten Bild ursprünglich?“, fragte er interessiert.

„Aus der DDR. Er ging weg, wie so viele, weil er experimentieren und sich nicht an die verordnete Bildsprache halten wollte.“

 

©BarbaraBiegel2022

(Auszug aus dem Manuskript "Imme Blau", veröffentlicht als Roman 2018)

Samstag, 19. Februar 2022

Das Baumlabyrinth


 

Sie parkten auf dem empfohlenen Wanderparkplatz unweit des Ortseingangs, stiegen aus und machten sich auf die Suche nach dem Baumlabyrinth. Auf einem breiten Hauptweg liefen sie in den Wald. Links waren die letzten Häuser der Siedlung zu erkennen. Nach 200 Metern bog ein Pfad ab und führte sie in eine relativ dichte Pflanzung aus jungen Bäumen, alles Feldahorn. Zuerst schien es, als stünden alle in schnurgeraden Reihen, dann kam eine Bank, bei der diese geometrische Ordnung unterbrochen wurde und neben der sich ein Eingang aus enger gepflanzten Exemplaren auftat. Sie hatten alle in zwei Metern Höhe neu ausgetrieben, an den Stellen, an denen sie einmal eingekürzt gewesen waren. So war eine Art Tunnel entstanden, ein Tunnel aus Baumgestalten mit wirren Haarschöpfen und mit der Aufforderung, einzutreten.

Sie betraten den weichen, mit Laub bedeckten Boden des Labyrinths und liefen zwischen den schlanken Baumgestalten, deren Füße moosbewachsen leuchteten, immer in Schleifen um eine Mitte, der sie abwechselnd näher kamen und von der sie sich dann wieder entfernten. Im Inneren des Labyrinths befanden sich anscheinend Leute, zwischen dem dichten Gezweig waren die Farben von Kleidungsstücken zu erkennen und Lachen zu hören. Es war seltsam, immer um diese Mitte zu kreisen, um irgendwelche Leute, die sie ja bestimmt ebenfalls näher kommen sahen.

Sie fragte sich, was in der Mitte des Labyrinths auf sie wartete. Sie sehnte sich nach Verbindung, nach Leichtigkeit und Kontakt. Schließlich, nach der letzten Runde, die sie am weitesten von ihrem Ziel weggeführt hatte als jede zuvor, öffnete sich das Rund eines kleinen Platzes mit einem großen Tisch aus Sandstein, auf dem ein Tuch mit Kaffeebechern und Kuchen lag. Dahinter wuchs ein junger Baum und acht Frauen standen vor dem Stein im Kreis zusammen und unterhielten sich.

„Oh, gibt es hier die Belohnung?“, fragte sie und trat an den Stein heran.

Die Frau, die ihnen am nächsten stand, sagte: „Ja, nehmen Sie sich ruhig von dem Kuchen, leider sind die Getränke schon alle.“ Sie hatte wache blaue Augen und einen energischen Mund, der freundlich lächelte.

„Oh, wir wollen Sie nicht stören“, entgegnete sie schnell.

„Sie stören nicht, nehmen Sie ruhig etwas!“, forderte die Frau sie erneut auf. Die anderen unterhielten sich zum Teil weiter, einige sahen her.

„Was feiern Sie denn hier?“, fragte sie, wie um Zeit zu gewinnen.

„Meinen Geburtstag“, antwortete die Frau, „den Kuchen hat mein Mann gebacken.“

„Oh, dann herzlichen Glückwunsch!“, rief sie und hörte ihren Begleiter sagen: „Auch von mir die besten Wünsche und immer ein gutes Herz und Humor.“

Sein Gegenüber bedankte sich und lachte.

Hier war es, dachte sie insgeheim, hier war das Süße im Leben, im perfekten Augenblick, und man hatte es ihr angeboten.

Sie sah zu ihrem Mann und fragte, hörbar für alle: „Meinst du, wir sollten uns etwas teilen?“

„Ja, gern“, antwortete er und nahm ein Stück Kuchen.

Beide aßen und sie fühlte sich beschenkt. Doch das war noch nicht alles. Sie erfuhren, dass die Frauen einer Tanzgruppe angehörten und als ihr Mann einwarf, sie wäre Qigong-Lehrerin, stieß diese Information auf großes Interesse. Eine der Frauen berichtete von ihren tiefgehenden Erfahrungen in einem Kurs, den sie seit Jahren besuchte und schenkte jedem einen Smiley aus Metall, der golden glänzte und den man als Chip für Einkaufswagen benutzen konnte. Sofort erkannte sie darin für sich die Botschaft, in ihrem Leben für mehr Freude zu sorgen, trotz all der Schwierigkeiten, in denen sie gerade steckte. Dann überreichte ihr eine andere Frau eine Visitenkarte, in der es darum ging, dem Körper Aufmerksamkeit zu schenken, ein weiterer Hinweis, der nur allzu berechtigt war. Das Geburtstagskind jedoch war die tiefste Verbindung zum Großen Ganzen, es zeigte sich, dass sie Qigong bei demselben Lehrer gelernt hatte wie sie selbst und plötzlich tauchte die Möglichkeit auf, in Kontakt zu bleiben. Zettel und Stift wurden gesucht und Telefonnummern ausgetauscht. Das größte Geschenk von ihr war das Interesse an ihrer Arbeit und die Frage, ob sie eventuelle Kurstermine durchgeben würde und ob sie sich vorstellen könne, eine Stunde zu geben. Überrascht und froh sagte sie zu und bedankte sich vielmals.

Als alles gesagt war, verabschiedeten sie sich und beim Verlassen des Kreises hörten sie noch eine Frau rufen, sie wären zur rechten Zeit am richtigen Ort gewesen, das Universum habe für diesen Ausgleich gesorgt.

Zu ihrem Mann sagte sie erstaunt: „Weißt du, an so einem Tag, mit dieser scheußlichen Mütze und meinen verheulten Augen bekomme ich so ein Geschenk. Ich habe gelernt, dass es egal ist, wie man aussieht und dass man nicht nur kämpfen muss. Wenn es fließen soll, dann fließt es.“

 

©BarbaraBiegel2022

Freitag, 11. Februar 2022

Die junge Frau

 


Es wurde eine Zugfahrt der anderen Art. Nicht, dass der Ablauf ungewöhnlich gewesen wäre. Nein. Wie üblich schwiegen die meisten Mitfahrenden, einige schliefen. Sobald sich meine beschlagenen Brillengläser bequemt hatten, mir den Blick frei zu geben, bemerkte ich, dass an der Frau schräg gegenüber irgendetwas besonders war. Sie hatte auf einem der Klappsitze Platz genommen und mir fiel zuerst ihre Kleidung auf. Sie trug feste Schuhe mit rotschwarz gestreiften Schnürsenkeln, darüber augenscheinlich selbstgestrickte Wollsocken, dazu eine saubere, aber sichtbar oft getragene Arbeiterhose mit Seitentaschen aus festem Stoff. Die Kapuze der hellgrauen Anorakjacke hatte sich im Nacken der jungen Frau von innen nach außen gestülpt und leuchtete wie ein Ball in einem warmen Rot. Auf dem Kopf trug sie eine schlichte geschmackvolle Mütze. Zwischen der schwarzen Maske und dem Rand der Mütze waren nur ein kleines Stück der Stirn und unter den schön gezeichneten dunklen Brauen die Augenpartie zu sehen. An den Händen trug sie Handschuhe, die bis über die Knöchel reichten und die Finger frei ließen. Vielleicht hatte sie gespürt, dass ich sie musterte, denn plötzlich traf mich ihr Blick, blau und von großer Helligkeit. Ich musste sofort an einen Morgen in Finnland denken, an Wellen, die sich ans Seeufer warfen, dazu der Duft frischen Birkengrüns. Auf einmal stieg in mir die Frage auf, wieso sich keiner der Fahrgäste vor ihr verneigte, mich inbegriffen. Weshalb niemand aussprach, was die junge Frau so besonders machte. Dass sie große Entschlossenheit ausstrahlte, eine Entschlossenheit, gepaart mit einer Geradlinigkeit, die sie zu einer Hoffnungsträgerin machten, gleich welche Probleme es zu lösen galt. Doch niemand verneigte sich, auch ich nicht. Schweigend stiegen alle am Endbahnhof aus. Das letzte, was ich von ihr sah, war, wie sie mit federndem Schritt mitten in der Menge verschwand. Später am Tag, als ich nach der Arbeit nach Hause fuhr, erzählte man sich am Stand des Brezenverkäufers, Blüten wären am Morgen wie aus dem Nichts vom Himmel geschwebt und hätten sich kurz vor dem Boden aufgelöst, als wollten sie die Füße der Passanten küssen. Das sei bis zum Hauptmarkt so gewesen, vielleicht ein Trick von Medienleuten, die wohl eine Spur hätten legen wollen, um irgendeine dubiose Absicht zu verfolgen. Am nächsten Tag stand in der Zeitung, was dann am Schönen Brunnen passiert war, die Welt hatte innegehalten, erste Kurswechsel fanden bereits statt - und ich schämte mich, dass ich das Besondere an der Frau erkannt hatte und trotzdem nicht mit ihr gegangen war.

©Barbara Biegel 2022