Samstag, 19. Dezember 2020

Vorhang auf

 


Mitten in der Manege befindet sich ein mannshohes, rundes, unscharf waberndes Etwas. Es pulsiert kaum sichtbar vor sich hin. Eindeutig – es lebt. Noch nie habe ich so etwas gesehen. Einerseits fürchte ich mich ein bisschen davor, andererseits zieht es mich an und macht mich neugierig. Dass Gott rotnasig und munter danebensteht, noch dazu mit einer Flöte in der Hand, stimmt mich zuversichtlich. Das kleine Mädchen lacht noch immer und die Ränge füllen sich mehr und mehr. Also nehme auch ich Platz. Die dritte Reihe scheint mir ausreichend Abstand zu dem seltsamen Wesen zu haben. Den Platz gleich am Mittelgang verliere ich allerdings, ich rücke auf, als eine Großfamilie kommt, vom Baby bis zur Großmutter mit einer blassen Gesichtsfarbe gesegnet und Chipstüten in den Händen haltend. Das große Rund in der Mitte der Manege wartet zusammen mit Gott, bis es ruhig wird im Zelt. Das Licht erlischt und nur noch ein Scheinwerfer bleibt auf das Geschehen in der Manege gerichtet. Schließlich ist es soweit, Gott lacht, steckt die Flöte in die Tasche und breitet weit die Arme aus, als wolle sie alle Zuschauer an ihr Herz drücken. Jeder kann sehen, wie sehr sie sich freut. Die Kapelle beginnt zu spielen, eine kleine Trommel setzt ein. Nach ein paar Takten schon weiß ich, dass ich dieses Stück schon einmal gehört habe. Ein Stück, das verhalten einsetzt und sich zu einem gewaltigen Finale steigert.

Bei den ersten Tönen hat das unheimliche Rund sich zu bewegen begonnen. Es fließt auseinander, wird flach, füllt die ganze Manege aus und ändert gleichzeitig seine Farbe. Es nimmt ein tiefes Nachtblau an. Gott scheint irgendetwas zu flüstern, daraufhin leuchtet die dunkle Oberfläche plötzlich kühl auf und schimmert wie Samt. Ein „Oh!“ kommt aus vielen Kehlen und die Leute klatschen. Ein weiteres Instrument setzt ein, eine Klarinette. Von irgendwo hoch aus der Kuppel des Zirkuszelts entzündet ein heller Funke eine Insel aus Licht, die sich ringförmig ausbreitet, so dass ich an die Ringe des Saturn denken muss, doch dann fließen die Ringe ineinander zu einem einzigen Lichtsee, der sich langsam an den Ufern nach unten wölbt und das samtige Schwarz wie eine Kuppel überspannt. Eine Zeitlang verharrt das Bild, aber es ist nicht statisch, die Lichtkuppel pulsiert und flirrt an den Rändern, das Schwarz scheint schwer und voller Geheimnisse zu sein. Die Musik nimmt Fahrt auf und gleichzeitig wird der unscharfe Bereich zwischen Licht und Finsternis deutlicher. Ein Glitzern auf seiner Oberfläche lässt mich an das Kräuseln eines Sees denken und wirklich, nach und nach kann jeder erkennen, das Dunkle ist jetzt Wasser. Staunend sehe ich, wie sich die glatte Fläche kräuselt und schließlich ein sachter Wellengang einsetzt. Regentropfen erzeugen Muster auf der Fläche und hüpfen wie bei einem Platzregen in die Höhe. In der Lichtkuppel zeigen sich Blitze und alle Formen von Wolken in raschem Wechsel. Während das Publikum fasziniert zu klatschen vergisst, erheben sich aus den Wellenbergen tatsächliche Berge und wachsen in den Himmel. Es formen sich Inseln mit sanften Buchten und Felsen, von denen Wasserfälle auf den Strand fallen. Plötzlich tritt überall Wachstum auf, üppig und reich an Vielfalt. Auf Wüsten breiten sich Gelb- und Ockertöne aus. Egal, wohin man schaut, überall wogen Pflanzen, Gesteine und Erden in vollendeten Rhythmen auf und ab, in einem vollkommenen Pendeln zwischen Wachsen und Vergehen. Die Musik verkörpert die Schönheit durch das Miteinander von mehr und mehr Instrumenten im immer gleichen Takt, eine hohe Melodie tritt als Stimme der Blütenpflanzen auf. Riesige Mammutbäume und Urfarne wiegen sich, von unsichtbaren Winden erfasst, in riesigen Regenwäldern, die Gräserfamilien laufen schnell  und in eiligen Wellen über die Erde, vergehen und sprießen mit frischem Grün neu empor. Schlingpflanzen kriechen mit ihren Ausläufern bis an die Meeresufer.

Gott steht zufällig in meiner Nähe. Sie scheint sich am allermeisten über das zu freuen, was sie sieht. Manchmal wippt sie im Takt der Musik mit dem Kopf vor und zurück und macht mit den Händen Bewegungen wie eine Tänzerin. Das Publikum schaut gebannt hin, niemand will sich von dem faszinierenden Schauspiel trennen, weshalb alle froh sind, dass sich als nächstes der Himmel über Land und Meer mit Sternen bevölkert. Manche der Sternbilder kommen mir bekannt vor. Der Schwan fliegt aus dem Sommerdreieck nach Süden. Sogar die Großfamilie neben mir lacht und applaudiert, als Gott aus den Manteltaschen Sonne und Mond herauszieht und anfängt, damit zu jonglieren. Endlich wirft sie beide mit einem lauten „Hepp!“ an den Himmel, wo die Sonne ihre Position findet und der Mond mit seinen Umläufen beginnt. Die Musik bekommt einen wehmütigen Beiklang und ich fühle mich ebenfalls ganz seltsam, weil ich erkenne, dass Gott gerade die Zeit eingeladen hat, in der Welt zu sein. Doch schon gesellen sich weitere Instrumente zu dem antreibenden Rhythmus. Es klingt, als ob sie den Auftritt für Krallen, Schuppen, Tatzen und Pfoten vorbereiten und so ist es auch. Plötzlich bevölkern Tiere die Szenerie. Delphine tauchen ab in die Schatten von Fischschwärmen, Kolibris umschwirren die Wasserfälle, Pferde galoppieren auf grünen Weiden um die Wette, Krokodile sperren in Flüssen liegend die Mäuler auf und das Heer der Insekten krabbelt, rennt und fliegt umher. Als rote Flamingos aufsteigen und sich über unseren Köpfen in die Höhe schrauben, ertönt ein vielstimmiger Ruf der Begeisterung aus allen Reihen und ich bin nicht die Einzige, die sich fragt, wie es sein kann, dass diese Illusion so echt aussieht. Inzwischen wiegt sich das ganze Publikum im Takt der Musik, manche singen begeistert die Melodie mit. Tamtatata tatam. Kinder sind aufgesprungen und stampfen von einem Fuß auf den anderen. Die Vorstellung ist ein voller Erfolg, der Höhepunkt ist erreicht, schöner kann es nicht werden. Alle erwarten und fürchten zugleich, dass die Musik aufhört und die Zuschauer entlassen werden. Niemand kann sich vorstellen, sich von diesem zauberhaften Schlussbild zu verabschieden. Doch zu unser aller Überraschung setzt noch ein letztes Instrument ein. Es ist die Flöte, die Gott aus ihrer Tasche zieht. Ihr heller Ton erklingt, sobald sie sie an den Mund setzt. Jeder fühlt, dass gleich etwas geschehen wird und plötzlich ist es soweit. Als würde die Zeit stehen bleiben, setzt das Orchester aus. Einzig der feine Flötenton schwebt zart durch den Raum. Selbst das Leben im Rund der Manege steht still. Kein Vogel flattert mehr. Die Kreise zweier Scheinwerfer wandern über die Ränge, als würden sie etwas suchen. Kleidungsstücke und Köpfe tauchen auf und verschwinden wieder. Man sieht nur noch diese Suchbewegung. Selbst Gott ist unsichtbar. Auf dem Höhepunkt der Spannung halten die Scheinwerfer auf einmal an. Sie sind jeder auf einen Menschen im Zuschauerraum gerichtet, auf einen Mann und auf eine Frau, die wie erstarrt dasitzen. „Voila!“ ruft Gott in einem neuen, dritten Lichtkegel und ihr roter Mantel rollt sich begeistert an den Säumen ein. Unsicher stehen der Mann und die Frau auf, die Scheinwerfer zeigen ihnen mit kleinen blinkenden Punkten den Weg. Zögernd betreten sie die Manege. Das Publikum klatscht Beifall, vielleicht sind einige ebenso froh wie ich, nicht ausgewählt worden zu sein. Am Meeresufer drehen sie sich etwas unschlüssig zu Gott um. Gott lacht, dann verneigt sie sich tief, ruft allen: „Viel Freude! Haltet zusammen! Seid achtsam!“ zu, winkt noch einmal und ist dann verschwunden. Zusammen mit Gott löst sich die Landschaft mit all den Gewächsen und Tieren auf, das große unscharfe Rund kehrt zurück, sammelt sich und verwandelt sich in der Manege in gedeckte Tische voll mit vegetarischen Speisen. Lampen werden entzündet, Lichtpunkte zeigen Wege auf und laden das Publikum ein, zum Essen zu kommen. Das lässt sich das nicht zweimal sagen, alle betreten den jetzt mit Sägespänen bestreuten Boden und bedienen sich. Die Leute sind aufgeräumter Stimmung und kommen ins Gespräch. Voller Bewunderung für die gelungene Vorstellung erzählen sie einander, wie besonders es für sie war, die Welt mit anderen Augen zu sehen und wie schützenswert ihnen ihre unvergleichliche Schönheit erschienen ist. Auch der Mann und die Frau sind ins Gespräch gekommen. Beide lieben sie Marmorkuchen und sie finden noch mehr Gemeinsamkeiten. Man sieht sie plaudernd und einander zugewandt das Zelt verlassen. Die letzte, die geht, ist das Mädchen. Es lacht und entrollt noch schnell ein Transparent. „For Future“ steht darauf.

 

 

©BarbaraBiegel2020

Montag, 7. Dezember 2020

Das Schreiben (und der Tanz)

 

Foto: Ida Biegel
 

Ich sitze auf dem Hocker neben dem Heizkörper im Zimmer meiner Tochter und setze von Neuem den Stift an, um zu schreiben, als plötzlich ein kleines schnelles Insekt über das Papier läuft. Ohne nachzudenken lasse ich meine Hand darauf fallen und wische es vom Blatt. Ein zarter Strich bleibt zurück. Ich starre ihn an. Was geschieht in diesem Moment? Tritt das Insekt seine Reise in den Himmel an? Oder verharrt es für eine kleine Weile in diesem unbekannten Zwischenreich, von dem so oft die Rede ist? Verhält es sich bei Insekten anders als bei Menschen? Eine weitere Frage taucht auf, die mir zu denken gibt. Hat das Insekt Angehörige? Oder war es das letzte Glied einer Reihe von Lebewesen, das Einzige, das sich durch die Frostnächte der letzten Zeit hat retten können? Eine Überlebende, die froh war, in der Perforierung der Seiten meines Schreibblocks oder in den Zwischenräumen der Spirale aus Draht ein Versteck gefunden zu haben? Es stellt sich die Frage, weshalb es sein Versteck verlassen hat, weshalb es so plötzlich losgelaufen ist, am hellen Tag, klein und dunkel, in dem Moment meines Schreibenwollens, deutlich sichtbar auf dem weißen Papier. Ich hatte eben die Überschrift verfasst, als die Geschichte durch sein unvermitteltes Auftauchen und mein reflexartiges Handeln eine andere wurde. 

Draußen vor dem Fenster stößt eine Amsel empörte Rufe aus. Wie hat sie erfahren, was vorgefallen ist? Hat sie, anders als ich, Zusammenhänge erkannt, die mir verborgen geblieben sind? So viele offene Fragen. Doch was mich rettet, ist das Schreiben. Es wirft mir Antworten zu wie Rettungsanker, es lässt mich auf den Wellen der Trauer reiten, anstatt mich in der Tiefe versinken zu lassen. Es trägt mich wie ein Floß an Land, auf festen Grund. Es verhindert, dass die Fragen mein Hirn vernebeln, dass meine Füße ins Straucheln kommen, dass mein Atem stockt. Das Schreiben bringt mich zum Fließen.

 

Wer einen großartigen Text über das Tanzen lesen möchte, sei auf den Blog verwiesen, der in dem Zimmer entstand, vor dessen Fenster die große Zeder steht:

 IDA (ida-biegel.blogspot.com)

 

Montag, 23. November 2020

Am Rande der Demo







 Fotos: Kunstprojekt mit Kindern in der offenen Jugendarbeit 2011, Thema: Sinn-Volles Handeln

Die Frau mit dem Rad und dem Kindersitz

Sofort fällt mir die Klingel auf, eine Marienkäferklingel, rot mit schwarzen Punkten. Die Frau, die auf der Demo neben mir stehenbleibt, hat ein junges Gesicht und blonde Haare, erst als sie von ihren Enkeln spricht, wird mir bewusst, dass sie älter ist, als ich dachte. Ein Gespräch entsteht und wir fragen einander, wieso so viele Menschen sich nicht engagieren, weshalb sie Zusammenhänge verdrängen und ihr Leben einfach so weiter leben wollen.

Sie sagt, sie hat erst gestern mit einer Tierärztin gesprochen, die allen Ernstes behauptet hat, Tiere hätten es in der Massentierhaltung besser als mit mehr Platz oder Einstreu aus Stroh. Die Frau ist doch studiert, die müsste es doch besser wissen, schüttelt sie den Kopf. Und die Besitzer von Konzernen, die haben doch auch Kinder, fragt sie sich und auch mich, sie sieht mich fragend an.

Ein gutes Gespräch beginnt, zwischen zwei Frauen mit unterschiedlichen Erfahrungen, ein tastendes, nach Erkenntnissen suchendes Gespräch, sehr verbindend, von Herz zu Herz. Sie erzählt von den jungen Kolleginnen, die immer so viel zweifeln und die Schuld bei sich suchen, wenn etwas nicht klappt.

So war ich früher nicht, sagt sie, die denken zu viel nach.

Frauen hatten einen anderen Stand früher, stelle ich fest.

Ja, sie nickt, die konnten gehen, wenn ihnen etwas nicht passte.

Ich, die ich nicht im Osten aufgewachsen bin, sage, ich hätte gehört, dass Frauen neben der Arbeit Kinder und Haushalt ganz allein machen mussten, weil sich so wenig Männer beteiligt haben.

Ja, das stimmt, sagt sie, und wir mussten noch anstehen, weil es so wenig gab. Aber es hat uns auch stark gemacht.

Sie lobt ihre Kinder, die sich über die Welt Gedanken machen und zum Teil vegetarisch leben. Sie drückt die Liebe zu den Enkeln aus, indem sie sagt, sie mag sie so, dass sie sie manchmal gern verwöhnt. Sie ist unzufrieden mit ihrer Mutter, die sich ständig Süßes einverleibt und eine Menge Dinge kauft und, wenn man fragt, ob ihre Enkelkinder Vegetarier sind, sagt: Nein, die sind ganz normal. Wobei beide Vegetarier sind und sie gar nicht weiß, was das bedeutet. So große Unterschiede innerhalb einer Familie.

Meine Mutter will es nicht wissen, sagt die Frau. Sie macht zu, wie so viele.

Vielleicht waren es zu viele herausfordernde Neuerungen, die Wende und die Folgen, die Geflüchteten, die Klimakrise, sage ich, vielleicht machen sie deshalb zu. Es wird ihnen zu anstrengend und sie wollen, dass sich kein Fußbreit mehr verändert.

Oder schlimmer noch, sagt die Frau, sie wollen es wie früher. Das sieht man ja am Wahlergebnis.

Was kann man denn dagegen machen, frage ich sie.

Ich weiß es nicht. Wieder ihr fragender Blick.

Ich weiß es auch nicht, sage ich, vielleicht miteinander sprechen, vielleicht ein offenes Ohr haben, vielleicht mit gutem Beispiel vorangehen.

Wir verabschieden uns lächelnd.

Samstag, 17. Oktober 2020

Atem und Atmen

 








 
 
Manchmal liebe ich es, nur mit einem oder wenigen Wörtern zu arbeiten, besonders, wenn ich nach Fertigstellung eines Romans leergeschrieben bin. Gerade bin ich dabei, das fertige Manuskript noch einmal zu überarbeiten und sage mir
 
vergiss nicht das

durchatmen
ein und aus atmen
Atem holen
atmen
den Atem fließen lassen
Atempausen machen
 
damit immer wieder von neuem 
 
Verbindung entsteht


Die großen Scheiben-Unikate aus Holunderholz (11cm im Durchmesser, 1,4 cm hoch, lackiert und signiert) sind zu erwerben für 20 Euro plus Versand)

Montag, 12. Oktober 2020

Veröffentlichungen

 

 
 
"Erst im Nachhinein" steht auf den eben mit der Post angereisten Anthologien, die Ingo Cesaro im Verlag Neue Cranach Presse Kronach herausgibt, alle im Handsatz gedruckt und von Gisela Gülpen handgebunden. Als gelernte Buchbinderin freue ich mich besonders, in diesem Projekt mit vier Haikus vertreten zu sein. Das Thema der Ausschreibung lautete "Erinnerung" - ein Wort, mit dem ich sehr viel anfangen kann.
 
Auch bei einer weiteren Ausschreibung hat einer meiner Texte Platz gefunden, die Kurzgeschichte zum Thema "Zersplitterung" erscheint demnächst im Internet bei zugetextet.com, einem Online-Magazin mit Printausgabe, das Walther Stonet heraus gibt. Am 30. Juli 2021 findet eine öffentliche Lesung im Kulturforum Metzingen statt, auf die ich mich schon sehr freue. Hauptfigur der Handlung ist ein Bonsai!
 

 

Freitag, 2. Oktober 2020

Übermalungen vom 2.10.2020, einen Tag vor der Feier zur Deutschen Einheit

 








Das Leben ist so vielschichtig. 

"Das einzige, was mich am Leben hält, ist meine Empfindlichkeit. Ich will sogar noch viel empfindlicher werden, als ich jetzt bin."

Woher ich dieses Zitat habe, weiß ich nicht mehr. Wenn mich die Welt zu sehr schmerzt und die Worte mich im Stich lassen, kann ich immer noch malen, was für ein Glück.

Samstag, 12. September 2020

Inspirationen aus Dresden

 



 

Sechs Menschen in einem Schweinestall legen ihre Hände auf ein Schwein

Bildrechte: Melanie Bonajo 

Ausstellung "Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer", Neues Kunsthaus Dresden, noch bis 4.10.

Hinter einem Vorhang sind in leicht schrägem Winkel je drei Säcke Blumenerde aufgestapelt. Auf ihnen kann man Platz nehmen und einen Film von Melanie Bonajo ansehen. Es kommen vier Frauen zu Wort. Sie werden in der Umgebung gezeigt, in der sie leben und handeln. 

Alle vier sind ins Handeln gekommen und das ist es, was diese Arbeit für mich zur nachhaltigsten macht - noch Tage später stehen mir die Bilder vor Augen und rufen jedes Mal Mut und Zuversicht hervor. Der Film beflügelt mein Schreiben, seine Wahrheit fordert mich auf, ebenfalls in meiner Wahrheit zu leben und zu handeln. 

Im ersten Film zeigt sich eine Frau nackt in der Natur, verbunden mit ihr, ganz nah und ungetrennt. Einmal hat sie ein Kind bei sich, ein Mädchen, beide stehen im schattigen Halbdunkel unter Bäumen und kosten von den Früchten, die die Sträucher ihnen schenken. Dass die Mutter das Kind hochnimmt und ihm selbstverständlich die Brust gibt, drückt die ursprüngliche Verbundenheit aus, die uns „zivilisierten“ Menschen so sehr verloren gegangen ist. Man sieht sie nackt bäuchlings auf einem bemoosten Stamm liegen oder auf dem Rücken im Wasser treiben, was einem sehr nahe rückt, fast wie ein Angriff, man möchte das Gefühl von Ekel und Widerwillen abwehren, ausgelöst durch die Sorge vor irgendwelchen Insekten, die womöglich mit der ungeschützten Haut oder mit Körperöffnungen in Berührung kommen. Man erkennt, wie weit man sich selbst von der eigenen Natürlichkeit entfernt hat. Die Frau inszeniert sich und kommt einem dadurch nah, sie bringt Menschen dazu, in ihre Haut zu schlüpfen, die Sehnsucht nach dem Verlorenen, der verlorenen Verbindung auftauchen zu lassen, und sie führt selbst Menschen in den Wald, lässt sie hören, fühlen und schmecken. Die zweite Frau haben ihre Auseinandersetzung mit der Natur und der Weg hin zu biologisch ausgerichteter Landwirtschaft dazu gebracht, Schweine zu streicheln. Sie liegt neben und an den riesigen Körpern im Stroh und berührt sie. Die Tiere bekommen durch diesen anderen Blick auf sie ihre Würde zurück, man erkennt die der unseren so ähnliche Hautoberfläche, die Zitzen, das sich Wohlfühlen und vor allem ihre Entspanntheit, wenn sie in einer Umgebung leben und in sozialer Interaktion mit anderen Wesen sind. Eine riesige Sau liegt genüsslich ausgestreckt und völlig entspannt im Stroh. Drei gutgekleidete Männer in Anzügen und eine Frau im Kostüm knien hinter ihr und berühren mit ihren Händen den Körper, streicheln ihn sanft. Lackierte Fingernägel dürfen lackierte Fingernägel sein, alles darf sein, jedes Lebewesen hat Würde in dieser Begegnung. Offen und achtsam gehen die Menschen mit den Tieren in Kontakt. Die dritte Frau gibt Menschen ihre Würde zurück, benachteiligten Jugendlichen, Gefängnisinsassen, alles Afroamerikaner, die sie in Kontakt mit der Erde bringt. In einem genossenschaftlich organisierten Garten berühren Hände krümelige Erde, dicke Kinder ernten Blüten für Tee oder Gemüse, es wird gemeinsam gekocht und gegessen, wie in alten Stammesgesellschaften werden Geschichten erzählt. Es entstehen Verbindungen zwischen Menschen, es ist ein Ort der Wertschätzung, an dem ein Jugendlicher in dem Moment, als er barfuß läuft, an seine Großmutter denken muss und an das, was sie ihm mitgegeben hat. Der Kontakt mit der Erde, das sich auf sie knien und sie mit den Händen und Füßen berühren, bringt Heilung. Die vierte Frau ist eine junge Indianerin, die die Kultur, Sprache und Bräuche ihres Volkes wieder zum Leben erweckt. Sie steht in der steppenartigen Ebene, am Horizont berühren die Linien von Bergen den Himmel, und sie schlägt die Trommel. Der Ton ist eindringlich und fordernd. Er berührt mich als Frau, als ob er etwas in mir aufweckt, was seit Jahrhunderten da ist und nur geschlafen hat, der Rhythmus von allem, was ist, von meinem eigenen Herzen und seiner Verbindung zu anderen, damals, als wir in Gruppen unterwegs waren, um unsere Existenz vor allem durch Sammeln und Jagen zu sichern und als uns der Herzschlag der Erde noch vertraut war. Die junge Indianerin gibt vor allem Frauen und Müttern ihre Würde zurück. Wenn die Frauen geachtet werden, zuerst von sich selbst, dann auch von den Männern, werden auch die Männer sich wieder achten und die Welt kann eine andere sein. Sie ruft Frauen dazu auf, nicht mehr an der eigenen Selbsterniedrigung teilzuhaben, nicht mehr die Geschichten zu glauben, die sie über Jahrhunderte haben glauben lassen, weibliches Leben wäre wertlos.

©Barbara Biegel2020

Dienstag, 1. September 2020

dancing


Wenn sie aus dem Haus ging, nahm sie es mit, in ihrem Inneren und hielt sich fest an den Wurzeln, an der Quelle. Das schützte sie, selbst wenn sie in den Schwanenweiher starrte und zwischen den Seerosen das eine oder andere dicke Maul eines Karpfens erspähte, das sich krampfartig öffnete und schloss und jedes Mal den schwarzen Schlund freigab. Auch, als sie unter der alten Weide gegenüber des Mosthauses saß, auf einer der drei neuen Bänke, die man neben der unproportionierten Statue des Friedensmahnmals aufgestellt hatte, blieb sie ruhig. Sie fragte sich, wo sie diese Figur schon einmal gesehen hatte und es fiel ihr ein: in einem Traum, Wochen zuvor. Beide hatten sie Arme und Beine verloren, der eigene Leib und der aus Stein. 

Doch die Weide war schön, sie hatte sie nie so recht bemerkt, vor allem einsam kam sie ihr vor, ebenso einsam wie sie selbst und ebenso einsam wie der Kastanienbaum am Bahnübergang, an der sie kurz zuvor vorbeigelaufen war. Das gleichaltrige stattliche Wesen daneben war irgendwann abhanden gekommen.

"Im Jetzt sein!", rief sie sich zu, bevor sie traurig werden konnte. Im gleichen Moment sah sie die Winde. 

Alles an ihr lächelte.