Montag, 23. November 2020

Am Rande der Demo







 Fotos: Kunstprojekt mit Kindern in der offenen Jugendarbeit 2011, Thema: Sinn-Volles Handeln

Die Frau mit dem Rad und dem Kindersitz

Sofort fällt mir die Klingel auf, eine Marienkäferklingel, rot mit schwarzen Punkten. Die Frau, die auf der Demo neben mir stehenbleibt, hat ein junges Gesicht und blonde Haare, erst als sie von ihren Enkeln spricht, wird mir bewusst, dass sie älter ist, als ich dachte. Ein Gespräch entsteht und wir fragen einander, wieso so viele Menschen sich nicht engagieren, weshalb sie Zusammenhänge verdrängen und ihr Leben einfach so weiter leben wollen.

Sie sagt, sie hat erst gestern mit einer Tierärztin gesprochen, die allen Ernstes behauptet hat, Tiere hätten es in der Massentierhaltung besser als mit mehr Platz oder Einstreu aus Stroh. Die Frau ist doch studiert, die müsste es doch besser wissen, schüttelt sie den Kopf. Und die Besitzer von Konzernen, die haben doch auch Kinder, fragt sie sich und auch mich, sie sieht mich fragend an.

Ein gutes Gespräch beginnt, zwischen zwei Frauen mit unterschiedlichen Erfahrungen, ein tastendes, nach Erkenntnissen suchendes Gespräch, sehr verbindend, von Herz zu Herz. Sie erzählt von den jungen Kolleginnen, die immer so viel zweifeln und die Schuld bei sich suchen, wenn etwas nicht klappt.

So war ich früher nicht, sagt sie, die denken zu viel nach.

Frauen hatten einen anderen Stand früher, stelle ich fest.

Ja, sie nickt, die konnten gehen, wenn ihnen etwas nicht passte.

Ich, die ich nicht im Osten aufgewachsen bin, sage, ich hätte gehört, dass Frauen neben der Arbeit Kinder und Haushalt ganz allein machen mussten, weil sich so wenig Männer beteiligt haben.

Ja, das stimmt, sagt sie, und wir mussten noch anstehen, weil es so wenig gab. Aber es hat uns auch stark gemacht.

Sie lobt ihre Kinder, die sich über die Welt Gedanken machen und zum Teil vegetarisch leben. Sie drückt die Liebe zu den Enkeln aus, indem sie sagt, sie mag sie so, dass sie sie manchmal gern verwöhnt. Sie ist unzufrieden mit ihrer Mutter, die sich ständig Süßes einverleibt und eine Menge Dinge kauft und, wenn man fragt, ob ihre Enkelkinder Vegetarier sind, sagt: Nein, die sind ganz normal. Wobei beide Vegetarier sind und sie gar nicht weiß, was das bedeutet. So große Unterschiede innerhalb einer Familie.

Meine Mutter will es nicht wissen, sagt die Frau. Sie macht zu, wie so viele.

Vielleicht waren es zu viele herausfordernde Neuerungen, die Wende und die Folgen, die Geflüchteten, die Klimakrise, sage ich, vielleicht machen sie deshalb zu. Es wird ihnen zu anstrengend und sie wollen, dass sich kein Fußbreit mehr verändert.

Oder schlimmer noch, sagt die Frau, sie wollen es wie früher. Das sieht man ja am Wahlergebnis.

Was kann man denn dagegen machen, frage ich sie.

Ich weiß es nicht. Wieder ihr fragender Blick.

Ich weiß es auch nicht, sage ich, vielleicht miteinander sprechen, vielleicht ein offenes Ohr haben, vielleicht mit gutem Beispiel vorangehen.

Wir verabschieden uns lächelnd.