Freitag, 16. Mai 2014

samstag früh halbsieben




Zufälle gibt es wahrscheinlich nicht, oder? Gestern bin ich das erste Mal hier in der Bücherei gewesen – wieso habe ich das nicht schon früher getan?
Von meinen Füßen habe ich mich erst in die Abteilung Kunst führen lassen, suchte etwas zeitgenössisches, mich betreffendes, also musste es bei „Kunst nach 1960“ sein, was als letzte Zäsur am Zeitstrahl angegeben war, obwohl die Zeit zwischen 1960 und heute mein ganzes Lebensalter umschreibt und in der Kunst eine unübersehbare Menge an Neuerungen hervorbrachte bis zu dem Punkt: „Heute“ ist gleich „zeitgenössische Kunst“, dazu hatte ich vor der Bücherei ein Symposion besucht, aber davon später.
Mein Blick scannte das ganze Kunstregal ab, blieb kurz bei Beuys hängen, überflog ganze Kunstjahrzehnte und fand das Angebot dünn: keine Frauenkünstlerinnen und noch weniger Frauenautorinnen. Unzufrieden las ich die Stichworte der Unterabteilungen, auch bei „Biografien“ war nichts dabei, schließlich gab es noch die Anthologien, hier „Frauen in der Kunst“ oder „Woman Artists“, das ich selbst besitze. Ganz hinten fand ich zwei Bücher über Street Art und Graffiti, eines davon über weibliche Künstlerinnen in dieser Szene – und nahm es mit, denn ein kurzes Anblättern hatte mir schon eine wunderbare Welt aus Zeichen gezeigt, von denen mich viele berührten. Vielleicht schwang auch die Tatsache mit, dass diese Kunst sich der Öffentlichkeit aufdrängte , sich des öffentlichen Raums bediente und somit auch politisch war – von dieser Tagung war ich angefixt durch die vielen Beispiele politischer Kunst und gleichzeitig aggressiv gestimmt durch die Erinnerung an meine Versuche, in dieser Stadt wahrgenommen zu werden.
Jedenfalls trug ich das dicke quadratische Graffitibuch unter dem Arm mit durch die weiteren Regalreihen, denn ein zusätzliches Buch wollte ich noch mitnehmen, hm, vielleicht zum Thema „Lebensfragen“, denn eine Beratung in dieser Hinsicht hatte ich doch wohl nötig, aber die Titel trafen mein Problem nicht, schon gar nicht die im Regalmeter Frauen. Dann eben weiter zu „Pädagogik und Psychologie“, wieder ein Feld für Problembearbeitung, zumal mir die letzte Unterrichtstunde völlig entglitten war und ich schon überlegt hatte, mit dem Kunstunterricht aufzuhören, aber ich ging zögernd vorbei, schließlich gab es  externe strukturelle Gründe für die schwierige Situation an der Schule, die ich nicht lösen konnte, eben so wenig, wie ich den Kindern nicht durch Lesen eines Psychologiebuches  besser begegnen können würde.
„Warum keine Belletristik?“, dachte ich. Schließlich hatte ich erst durch E. von Audre Lord gehört und ihrem politischen Ansatz und eines ihrer Bücher von ihr empfohlen bekommen. Ich verließ die Sachbuchabteilung und setzte mich in der Belletristikabteilung an den PC, gab die Autorin in die Suchbegriffmaske ein, drückte nach Anweisung auf GO – kein Ergebnis. Also gut, das war wahrscheinlich ein Zeichen, gab es denn nicht andere Autorinnen mit zeitgenössischen Inhalten, die mich interessierten und die ich vielleicht schon immer hatte lesen wollen? Und da fiel mir Christa Wolf ein, sie würde das OstWestThema berühren und war es nicht ihre Figur Kassandra gewesen, die mich damals in den 80ern so tief beeindruckt hatte?  Auch hatte ich einige Reden anlässlich ihres Todes im Gedächtnis und einen ihrer späten Texte ungelesen auf meiner Festplatte – wie hieß nur das letzte Buch, das in Los Angeles spielte und das ich aus Geldmangel nicht zu kaufen gewagt hatte? Genau: Stadt der Engel! Es war nicht ausgeliehen und stand unter dem Buchstaben W ganz unten im vorletzten Regal. Wie eine Beute trug ich es zusammen mit dem Graffitibuch zur Ausleihe, ließ mir die dazu notwenigen Schritte erklären, verstaute beide in meiner Tasche neben der Mitschrift aus dem Symposium und fuhr nach Hause.
Das war gestern und heute früh am Küchentisch schlug ich es auf und wurde bald von eben jener Aufregung ergriffen, die sich einstellt, wenn Inhalte etwas mit mir zu tun haben.