Samstag, 19. Dezember 2020

Vorhang auf

 


Mitten in der Manege befindet sich ein mannshohes, rundes, unscharf waberndes Etwas. Es pulsiert kaum sichtbar vor sich hin. Eindeutig – es lebt. Noch nie habe ich so etwas gesehen. Einerseits fürchte ich mich ein bisschen davor, andererseits zieht es mich an und macht mich neugierig. Dass Gott rotnasig und munter danebensteht, noch dazu mit einer Flöte in der Hand, stimmt mich zuversichtlich. Das kleine Mädchen lacht noch immer und die Ränge füllen sich mehr und mehr. Also nehme auch ich Platz. Die dritte Reihe scheint mir ausreichend Abstand zu dem seltsamen Wesen zu haben. Den Platz gleich am Mittelgang verliere ich allerdings, ich rücke auf, als eine Großfamilie kommt, vom Baby bis zur Großmutter mit einer blassen Gesichtsfarbe gesegnet und Chipstüten in den Händen haltend. Das große Rund in der Mitte der Manege wartet zusammen mit Gott, bis es ruhig wird im Zelt. Das Licht erlischt und nur noch ein Scheinwerfer bleibt auf das Geschehen in der Manege gerichtet. Schließlich ist es soweit, Gott lacht, steckt die Flöte in die Tasche und breitet weit die Arme aus, als wolle sie alle Zuschauer an ihr Herz drücken. Jeder kann sehen, wie sehr sie sich freut. Die Kapelle beginnt zu spielen, eine kleine Trommel setzt ein. Nach ein paar Takten schon weiß ich, dass ich dieses Stück schon einmal gehört habe. Ein Stück, das verhalten einsetzt und sich zu einem gewaltigen Finale steigert.

Bei den ersten Tönen hat das unheimliche Rund sich zu bewegen begonnen. Es fließt auseinander, wird flach, füllt die ganze Manege aus und ändert gleichzeitig seine Farbe. Es nimmt ein tiefes Nachtblau an. Gott scheint irgendetwas zu flüstern, daraufhin leuchtet die dunkle Oberfläche plötzlich kühl auf und schimmert wie Samt. Ein „Oh!“ kommt aus vielen Kehlen und die Leute klatschen. Ein weiteres Instrument setzt ein, eine Klarinette. Von irgendwo hoch aus der Kuppel des Zirkuszelts entzündet ein heller Funke eine Insel aus Licht, die sich ringförmig ausbreitet, so dass ich an die Ringe des Saturn denken muss, doch dann fließen die Ringe ineinander zu einem einzigen Lichtsee, der sich langsam an den Ufern nach unten wölbt und das samtige Schwarz wie eine Kuppel überspannt. Eine Zeitlang verharrt das Bild, aber es ist nicht statisch, die Lichtkuppel pulsiert und flirrt an den Rändern, das Schwarz scheint schwer und voller Geheimnisse zu sein. Die Musik nimmt Fahrt auf und gleichzeitig wird der unscharfe Bereich zwischen Licht und Finsternis deutlicher. Ein Glitzern auf seiner Oberfläche lässt mich an das Kräuseln eines Sees denken und wirklich, nach und nach kann jeder erkennen, das Dunkle ist jetzt Wasser. Staunend sehe ich, wie sich die glatte Fläche kräuselt und schließlich ein sachter Wellengang einsetzt. Regentropfen erzeugen Muster auf der Fläche und hüpfen wie bei einem Platzregen in die Höhe. In der Lichtkuppel zeigen sich Blitze und alle Formen von Wolken in raschem Wechsel. Während das Publikum fasziniert zu klatschen vergisst, erheben sich aus den Wellenbergen tatsächliche Berge und wachsen in den Himmel. Es formen sich Inseln mit sanften Buchten und Felsen, von denen Wasserfälle auf den Strand fallen. Plötzlich tritt überall Wachstum auf, üppig und reich an Vielfalt. Auf Wüsten breiten sich Gelb- und Ockertöne aus. Egal, wohin man schaut, überall wogen Pflanzen, Gesteine und Erden in vollendeten Rhythmen auf und ab, in einem vollkommenen Pendeln zwischen Wachsen und Vergehen. Die Musik verkörpert die Schönheit durch das Miteinander von mehr und mehr Instrumenten im immer gleichen Takt, eine hohe Melodie tritt als Stimme der Blütenpflanzen auf. Riesige Mammutbäume und Urfarne wiegen sich, von unsichtbaren Winden erfasst, in riesigen Regenwäldern, die Gräserfamilien laufen schnell  und in eiligen Wellen über die Erde, vergehen und sprießen mit frischem Grün neu empor. Schlingpflanzen kriechen mit ihren Ausläufern bis an die Meeresufer.

Gott steht zufällig in meiner Nähe. Sie scheint sich am allermeisten über das zu freuen, was sie sieht. Manchmal wippt sie im Takt der Musik mit dem Kopf vor und zurück und macht mit den Händen Bewegungen wie eine Tänzerin. Das Publikum schaut gebannt hin, niemand will sich von dem faszinierenden Schauspiel trennen, weshalb alle froh sind, dass sich als nächstes der Himmel über Land und Meer mit Sternen bevölkert. Manche der Sternbilder kommen mir bekannt vor. Der Schwan fliegt aus dem Sommerdreieck nach Süden. Sogar die Großfamilie neben mir lacht und applaudiert, als Gott aus den Manteltaschen Sonne und Mond herauszieht und anfängt, damit zu jonglieren. Endlich wirft sie beide mit einem lauten „Hepp!“ an den Himmel, wo die Sonne ihre Position findet und der Mond mit seinen Umläufen beginnt. Die Musik bekommt einen wehmütigen Beiklang und ich fühle mich ebenfalls ganz seltsam, weil ich erkenne, dass Gott gerade die Zeit eingeladen hat, in der Welt zu sein. Doch schon gesellen sich weitere Instrumente zu dem antreibenden Rhythmus. Es klingt, als ob sie den Auftritt für Krallen, Schuppen, Tatzen und Pfoten vorbereiten und so ist es auch. Plötzlich bevölkern Tiere die Szenerie. Delphine tauchen ab in die Schatten von Fischschwärmen, Kolibris umschwirren die Wasserfälle, Pferde galoppieren auf grünen Weiden um die Wette, Krokodile sperren in Flüssen liegend die Mäuler auf und das Heer der Insekten krabbelt, rennt und fliegt umher. Als rote Flamingos aufsteigen und sich über unseren Köpfen in die Höhe schrauben, ertönt ein vielstimmiger Ruf der Begeisterung aus allen Reihen und ich bin nicht die Einzige, die sich fragt, wie es sein kann, dass diese Illusion so echt aussieht. Inzwischen wiegt sich das ganze Publikum im Takt der Musik, manche singen begeistert die Melodie mit. Tamtatata tatam. Kinder sind aufgesprungen und stampfen von einem Fuß auf den anderen. Die Vorstellung ist ein voller Erfolg, der Höhepunkt ist erreicht, schöner kann es nicht werden. Alle erwarten und fürchten zugleich, dass die Musik aufhört und die Zuschauer entlassen werden. Niemand kann sich vorstellen, sich von diesem zauberhaften Schlussbild zu verabschieden. Doch zu unser aller Überraschung setzt noch ein letztes Instrument ein. Es ist die Flöte, die Gott aus ihrer Tasche zieht. Ihr heller Ton erklingt, sobald sie sie an den Mund setzt. Jeder fühlt, dass gleich etwas geschehen wird und plötzlich ist es soweit. Als würde die Zeit stehen bleiben, setzt das Orchester aus. Einzig der feine Flötenton schwebt zart durch den Raum. Selbst das Leben im Rund der Manege steht still. Kein Vogel flattert mehr. Die Kreise zweier Scheinwerfer wandern über die Ränge, als würden sie etwas suchen. Kleidungsstücke und Köpfe tauchen auf und verschwinden wieder. Man sieht nur noch diese Suchbewegung. Selbst Gott ist unsichtbar. Auf dem Höhepunkt der Spannung halten die Scheinwerfer auf einmal an. Sie sind jeder auf einen Menschen im Zuschauerraum gerichtet, auf einen Mann und auf eine Frau, die wie erstarrt dasitzen. „Voila!“ ruft Gott in einem neuen, dritten Lichtkegel und ihr roter Mantel rollt sich begeistert an den Säumen ein. Unsicher stehen der Mann und die Frau auf, die Scheinwerfer zeigen ihnen mit kleinen blinkenden Punkten den Weg. Zögernd betreten sie die Manege. Das Publikum klatscht Beifall, vielleicht sind einige ebenso froh wie ich, nicht ausgewählt worden zu sein. Am Meeresufer drehen sie sich etwas unschlüssig zu Gott um. Gott lacht, dann verneigt sie sich tief, ruft allen: „Viel Freude! Haltet zusammen! Seid achtsam!“ zu, winkt noch einmal und ist dann verschwunden. Zusammen mit Gott löst sich die Landschaft mit all den Gewächsen und Tieren auf, das große unscharfe Rund kehrt zurück, sammelt sich und verwandelt sich in der Manege in gedeckte Tische voll mit vegetarischen Speisen. Lampen werden entzündet, Lichtpunkte zeigen Wege auf und laden das Publikum ein, zum Essen zu kommen. Das lässt sich das nicht zweimal sagen, alle betreten den jetzt mit Sägespänen bestreuten Boden und bedienen sich. Die Leute sind aufgeräumter Stimmung und kommen ins Gespräch. Voller Bewunderung für die gelungene Vorstellung erzählen sie einander, wie besonders es für sie war, die Welt mit anderen Augen zu sehen und wie schützenswert ihnen ihre unvergleichliche Schönheit erschienen ist. Auch der Mann und die Frau sind ins Gespräch gekommen. Beide lieben sie Marmorkuchen und sie finden noch mehr Gemeinsamkeiten. Man sieht sie plaudernd und einander zugewandt das Zelt verlassen. Die letzte, die geht, ist das Mädchen. Es lacht und entrollt noch schnell ein Transparent. „For Future“ steht darauf.

 

 

©BarbaraBiegel2020

Montag, 7. Dezember 2020

Das Schreiben (und der Tanz)

 

Foto: Ida Biegel
 

Ich sitze auf dem Hocker neben dem Heizkörper im Zimmer meiner Tochter und setze von Neuem den Stift an, um zu schreiben, als plötzlich ein kleines schnelles Insekt über das Papier läuft. Ohne nachzudenken lasse ich meine Hand darauf fallen und wische es vom Blatt. Ein zarter Strich bleibt zurück. Ich starre ihn an. Was geschieht in diesem Moment? Tritt das Insekt seine Reise in den Himmel an? Oder verharrt es für eine kleine Weile in diesem unbekannten Zwischenreich, von dem so oft die Rede ist? Verhält es sich bei Insekten anders als bei Menschen? Eine weitere Frage taucht auf, die mir zu denken gibt. Hat das Insekt Angehörige? Oder war es das letzte Glied einer Reihe von Lebewesen, das Einzige, das sich durch die Frostnächte der letzten Zeit hat retten können? Eine Überlebende, die froh war, in der Perforierung der Seiten meines Schreibblocks oder in den Zwischenräumen der Spirale aus Draht ein Versteck gefunden zu haben? Es stellt sich die Frage, weshalb es sein Versteck verlassen hat, weshalb es so plötzlich losgelaufen ist, am hellen Tag, klein und dunkel, in dem Moment meines Schreibenwollens, deutlich sichtbar auf dem weißen Papier. Ich hatte eben die Überschrift verfasst, als die Geschichte durch sein unvermitteltes Auftauchen und mein reflexartiges Handeln eine andere wurde. 

Draußen vor dem Fenster stößt eine Amsel empörte Rufe aus. Wie hat sie erfahren, was vorgefallen ist? Hat sie, anders als ich, Zusammenhänge erkannt, die mir verborgen geblieben sind? So viele offene Fragen. Doch was mich rettet, ist das Schreiben. Es wirft mir Antworten zu wie Rettungsanker, es lässt mich auf den Wellen der Trauer reiten, anstatt mich in der Tiefe versinken zu lassen. Es trägt mich wie ein Floß an Land, auf festen Grund. Es verhindert, dass die Fragen mein Hirn vernebeln, dass meine Füße ins Straucheln kommen, dass mein Atem stockt. Das Schreiben bringt mich zum Fließen.

 

Wer einen großartigen Text über das Tanzen lesen möchte, sei auf den Blog verwiesen, der in dem Zimmer entstand, vor dessen Fenster die große Zeder steht:

 IDA (ida-biegel.blogspot.com)