Sonntag, 16. Dezember 2018

Von der Verwirklichung der Träume in dreierlei Gestalt



Von der Verwirklichung der Träume in dreierlei Gestalt


Die Leute im Radio setzen die Segel
In einer Sendung über Reisen auf dem Meer

Der Mann gibt seinen Job auf,
befährt das blaue Tuch des Mittelmeers und sammelt auf ihm 42 Inseln ein

Das Pärchen lässt sein blaues Schiff vom Anker. Mit drei weißen Streifen berührt es den Atlantik und nachts, sagt der junge Mann, kann man im hellen Licht der Sterne Zeitung lesen

Die Frau, die überall gesegelt ist, bahnt sich durch Schleusen und Kanäle den Weg vom Nordkap in die große weiße Stadt des alten Zarenreichs

Sie alle folgen diesem inneren Rufen, das sie weit atmen und alles andere niederlegen lässt und nur die Sehnsucht hoch, am Wasser unterwegs zu sein

Ich falte Boote aus Papier und setze sie auf Kurs nach Süd. Die Besatzung aus Wörtern wendet mir den Rücken zu


©Barbara Biegel2018


Dienstag, 11. Dezember 2018

Der Stein



Der Arzt hielt die Pinzette direkt vor meine Augen, obwohl ich auf die Frage „Möchten Sie ihn sehen?“ mit einem „Nein“ geantwortet hatte. Ich wollte den Stein nicht sehen. Weshalb setzte er sich darüber hinweg? Hinter der Pinzette sah ich sein Gesicht. Er freute sich, das war unübersehbar. Er war begeistert und stolz. Seinen Stolz konnte ich nachvollziehen. Er hatte eine schwere Aufgabe gut gemeistert. Bei der Formulierung ‚schwere Aufgabe‘ kommen mir die Tränen, aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls hatte er sein Können unter Beweis gestellt, gegründet anfangs auf die besten Schulnoten als Zugangsvoraussetzung zum Studium, dann auf den sicher herausragenden Abschluss, gefolgt von den Jahren der Praxis, bis zu seiner jetzigen Stellung als rechte Hand des Professors. Dieser erschien im weißen Kittel, um seine erfahrenen Augen auf das Werk zu richten, um es zu prüfen und dem künftigen Nachfolger Lob zu zollen. Mich bedachte er ebenfalls mit Lob. „Sie haben ein wirklich außerordentliches Exemplar. Darf ich Sie beglückwünschen?“ Zu der rhetorischen Frage schüttelte ich den Kopf, ein wenig nur, weil mir alles weh tat, und weil der Schnitt noch vernäht wurde. Ein letztes Mal zog die Nadel am Faden aus meinem Mund und mit einem kleinen Sirren zerriss die Spannung, als die Schere ihn abtrennte. Mein Kiefer löste sich etwas aus seiner Starre, mein Körper hatte sich der Form des OP-Stuhl ergeben. „Und Sie wollen ihn wirklich nicht haben?“ Ich schloss die Augen. „Dürfen wir ihn dann in unsere Sammlung aufnehmen?“ Ich nickte kurz, ohne ihn anzusehen. Sicherlich freute er sich. Ich war nicht stolz auf diesen Stein, der sich in meinem rechten Speichelgang gebildet hatte. Er hatte sich Molekül für Molekül zu einem kleinen festen Klumpen geformt, dann in den Jahren, als es mir schlechtging, als ich so viel zu schlucken hatte, als ich oft und oft innerlich in Starre verfiel, als ich meinen Mund nicht mehr aufbekam, als mir die Spucke wegblieb, in diesen Jahren war er Schicht für Schicht zu einem Stein gewachsen. Dieser Stein, der in meinem Speichelgang so groß geworden war, dass er nicht mehr herausfand, so wie ich nicht mehr herausfand aus dem Leben, das ich mir gewählt hatte, mahnte mich, er verursachte mir Schmerzen, er zwang mir den Weg zum Arzt auf bis hin zu dem Tag der Operation. Wahrscheinlich hatte der Stein es von Anfang an darauf angelegt, in die Sammlung der Universität aufgenommen zu werden. Es war ihm gelungen.

 

©Barbara Biegel2018


Samstag, 20. Oktober 2018

Sorge




Ich bin beim Schreiben meines Romans und es fließt und es gelingt mir, was ich so liebe:  
Meinen Sohn, meine Kinder, die kleinen Einzelheiten meines Lebens mit der großen Welt zu verknüpfen, der äußeren Welt, in der wir verantwortlich handeln sollten, und der inneren, mit der wichtigsten Aufgabe, die uns gestellt ist, - zu lieben. 

Dann ergreift mich manchmal große Sorge. 

Eben habe ich noch ein liebevolles Detail erinnert und eingefügt in den Gesamttext, da nehme ich dieses Erinnerungsstück als Lücke war, als Lücke in meiner Lebenserzählung. Und habe das Gefühl, ich hätte sie durch das Aufschreiben und das Unterbringen im Text losgelassen, leichtfertig hingegeben, unwiederbringlich verloren. Schnell suche ich den Originaltext - da ist er, rot markiert, wie alles, was ich in dem Roman verwebe, aber es bleibt dieser leere Fleck in meinem Kopf, in meinem Herzen. Kann es sein, dass es mir geht wie mit vielem Aufgeschriebenem, Eingebundenem, Ins-Regal-Gestelltem?
Dass es weg ist und mir dann nur noch schwach erinnerbar?

Oder geht es mir wie mit meinen lieben Toten? Sie sind nicht weg, sie haben sich nur tiefer in meinem Herzen verankert.


Freitag, 31. August 2018

Augenbilder






Drei Augen
in Goldrahmen
mit blauem Blick
voll Sehnsucht
und Liebe
in der Zeit
um den zwölften August


Ausstellung von Wasserfarbenbildern in den Räumen der Geschäftstelle der Verwaisten Eltern München, begleitet von einer Lesung aus meinem Roman "Imme Blau"

Mittwoch, 8. August 2018

Vom dritten Buch und mehr


 

Es ist Sommer und ich bin tief in meinem dritten Buch versunken. Manchmal erscheint mir dieser Text wie ein riesiger Berg, der nicht zu bewältigen ist. Ich kralle mich an ihm fest und klettere Fuß für Fuß höher. Unterwegs greife ich nach meinen Worten, Wörter wie schwere Steine, leichte und kraftvolle Federn oder zarte, bunte Blüten. Der Berg stellt mich vor schwierige Aufgaben und die Aussicht, dass all die eingesammelten Fundstücke noch einmal in die Hand genommen, angesehen, umgedreht, geprüft und entweder weggeworfen oder vom Staub befreit und poliert werden müssen, lässt mich manchmal müde werden. Dann frage ich mich, wieso ich schreibe, weshalb dieser neue Text von den Bergen handelt. Ich lehne mich einen Augenblick zurück, dann steht mir wieder alles klar vor Augen.
Am kommenden Sonntag ist der vierte Todestag meines Sohns. Sein Nahen verknüpft mich mit allem, was mir begegnet, so auch mit dem Buch in der Wühlkiste des Supermarkts, Fotos und Geschichten von den Bergen der Welt. Zu Hause zerschneide ich es in einem Akt der Aneignung und es entstehen Collagen.








Mittwoch, 1. August 2018

"Rot ist die Liebe!"



Unter der Dorflinde neben dem plätschernden, innen blau gestrichenem Brunnenbecken. Eine Spur aus dreifachem Tropfen sorgt für ein frisches, unregelmäßiges Rieselgeräusch. Eine ältere Frau in orangefarbener Strickjacke und schwarzen Hausschuhen kommt und grüßt „Guten Morgen“, obwohl es Abend ist. Ich mache Platz neben mir auf der Bank. 
Mit zusammengekniffenen Augen sieht sie auf die Sitzfläche und stellt entgeistert fest: 
„Die ist ja grün, die Bank!“ 
Ich bejahe, als sie mich fragend ansieht. 
„Grün? Das ist ja schlimm. Eine Bank streicht man doch nicht grün!“ 
„Wie denn dann?“, will ich wissen. 
„Na, braun! Rot nicht! Rot ist die Liebe!“ Nachdrücklich und mit festem Blick sieht sie mich an. Dann fasst sie sich um die Schultern: „Oh, hier zieht es, mir wird kalt, ich geh.“ Und eilig steht sie auf und ist schon auf der Straße, ohne auf den Verkehr geachtet zu haben. 
Da ruft ein Mann von gegenüber: „Rosa, komm heim!“