Samstag, 6. November 2021

An der Wand


 

Da sind sie ja wieder, die versammelten Teile meiner Persönlichkeit. Während ich die Umzugskartons in den Keller gebracht habe, haben sie sich an der Wand meines Zimmers versammelt. Es hat bestimmt ein bisschen geruckelt, bis jedes Teil seinen Platz gefunden hat. Einige rempeln gerne und drängen sich vor, andere sind selbstbewusster und lassen sich nicht so leicht vertreiben. Die besonneren Anteile haben sicher mit gewählten Worten dazu beigetragen, die letzten Streitigkeiten zu beenden.

Ich freue mich, wenn ich die Wand betrachte.

Mittig die Fetzen meiner alten Kinderzimmertapete. Wäre in Mutters Haus kein Wasserschaden aufgetreten, wären diese feuerroten Stücke mit den goldenen Spuren wohl nie unter der hellen Textiltapete zum Vorschein gekommen.               Direkt darunter erinnert mich die blaue Karte mit der großen weißen Schrift daran, zu atmen.                            Das passt gut zu der Zeichnung meiner Tochter: Love is the way. Die Buchstaben tanzen wie sie selbst, fließend und kraftvoll zugleich.               Der Abdruck eines blauen Tulpenbaumblattes rahmt zusammen mit dem „Atme...“ ihre Botschaft ein, der nichts hinzuzufügen ist.

Hinter der geheimnisvollen Kachelmappe verbirgt sich das wundervolle Geschenk einer jungen Frau, die mir bei den Texttagen aufmerksam zugehört hat. Sie kleidete ihre Antwort auf mein Anliegen in magische, bestärkende Worte.           Die Zeichnung daneben verkörpert meinen künstlerischen Anteil. An welchem Ufer ich die Bäume gezeichnet habe, weiß ich nicht mehr.                    Leicht schräg darüber sieht aus einem mattgoldenen Rahmen ein Auge herab. Oder handelt es sich um einen Fisch? Jedenfalls fühle ich mich immer beobachtet. Nur, wenn ich direkt vor der Tastatur sitze, kann ich etwas unter diesem forschenden Blick abtauchen.                Gleich unter dem Fisch eine andere Zeichnung. Jesus am Ölberg. Das Bild hing über dem Ehebett meiner Großmutter und fristet nun im Keller sein Dasein.              Daneben wieder etwas Blaues, ein Geschenk meiner Freundin Eva. Ein Mandala mit zarten Blütententakeln ruht inmitten einer zart cremefarbenen Fläche. Im Zentrum ist ein Auge zu finden, es schwimmt auf der Wasseroberfläche eines geheimnisvollen Teichs, hat sich rechts und links verankert an einer Kreislinie, die mit unumstößlicher Gewissheit verkündet, dass alles von Liebe umgeben ist.             Von derselben Botschaft singt das Bild daneben.         Die gerahmten Schwünge ganz rechts stimmen mit ein. Die Zeichnung ist in einer Ausstellung in München entstanden. Ich bin so sehr inspiriert gewesen, dass die Linien gar nicht anders konnten, als sich zu etwas besonders Berührendem zu formen.                  Darunter die fünf Elemente der chinesischen Philosophie, die mich an die stete Veränderung erinnert, der alles Leben unterworfen ist. Fehlt noch, von der Insel aus Worten zu berichten, die alles zusammenfasst, was mich beschäftigt, tröstet und froh stimmt.

 

©Barbara Biegel2021