Freitag, 25. April 2025

Die Tonaufnahme


 

 

Ich komme nach Hause und mache weiter mit den Listen. Ich nehme Gegenstände im Zimmer meines Mannes in die Hand und entscheide über ihr Schicksal. Ich werfe einen Blick in den Karton mit dem Dat Rekorder von Sony, den er Mitte der Neunziger Jahre für eine damals große Summe gekauft hat. Darin sind auch noch das Netzteil und drei kleinformatige Kassetten. Ich drücke den winzigen OPEN-Schalter nach rechts und das Deck öffnet sich. Ich stecke die Kassette hinein, auf der „Klanglandschaft Darss 2006“ steht. Ich schließe das Fach, setze die Kopfhörer auf und drücke die PLAY-Taste. Ich höre die Abfahrt eines Zuges und Lautsprecherdurchsagen. Dann fährt der Zug in einen Bahnhof ein, die Türen öffnen sich und ich bin in Warnemünde. Als nächstes fahre ich mit dem Rad durch einen Wald, höre Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes in den Bäumen, bis das Rad abgestellt wird – deutlich ist das Klacken des Ständers zu hören. Begrüßungsworte an einer Rezeption ertönen. Im Hintergrund spielen Kinder im Freien, dann ein erneutes Klacken und ich weiß, das ist der Türgriff des alten Eisenbahnwaggons auf dem Gelände der Jugendherberge im Darsswald. Ich sehe den Ort vor mir, an dem wir uns vor über 20 Jahren kennengelernt haben. Jeden Sommer nahm mein Mann dort Quartier, oft für vier Wochen. Lachen, Stimmengewirr und Tellerklappern sind zu hören, bis das Rad wieder durch den Wald bewegt wird. Dann Schritte, wohl auf Kies. Doch bald erkenne ich, wo sich mein Mann befindet: Er läuft durch die Dünen zum Strand. Das Rauschen des Meeres wird laut und lauter. Er ist angekommen. Ich sehe die Bilder der Seebestattung vor mir und drücke die STOP-Taste.

Ich wünschte, ich könnte das Leben zurückspulen.

 

©BarbaraBiegel2025

Donnerstag, 17. April 2025

Be-Deutungen

 

Ich hätte nie gedacht, dass mir der Garten einmal so viel bedeuten würde. Schon als ich ihn das erste Mal sah, kam mir Händels Text in den Kopf:

Ev'ry valley shall be exalted, and ev'ry moutain and hill made low; the crooked straight and the rough places plain.


Ganze Tage verbrachte ich in der Hütte, zwischen Gewächsen, die jemand vor langer Zeit gepflanzt hatte. Vertraut mit den Besuchern des Gartens, ihren Gesängen, Fährten und Losungen fühlte ich mich als Teil der Natur. Und lernte von ihr.

Über allem lag die Wolkendecke, manchmal leicht, manchmal dicht und schwer.

Hütte, Bett, Ofen und Kerzenwachs begleiteten mich durch die Nächte. Der Fuchs lief am Zaun entlang und warf Blicke durchs Fenster. Der einzige Hase der Gegend stattete der Wiese Besuche ab und über allem leuchtete der Goldregen. Mäuse tanzten mir auf dem Kopf herum, wenn ich einen Brotrest im Regal vergessen hatte. Die Schlange zeigte sich, wenn ich sang. Sie kroch unter der großen alten Ligusterhecke hervor, die sich im Lauf der Zeit, von niemandem beschnitten, zur Seite geneigt hatte und sowohl die Hütte als auch das Lagerfeuerrund vor aller Augen verbarg. Zusammen mit Waldkauz und Mond betrachtete ich die Flammen, bis zuletzt das rote Glühen im Steinrund übrigblieb: Die Große Stadt. Wer war dort noch auf, in welchen Vierteln funkelten noch Lichter?

Vor dem Schlafengehen ging ich die paar Stufen zu dem einzeln stehenden Klohäuschen hinunter –bei offener Tür konnte man in das Grün des Waldes schauen. Darüber zeigten sich nach Einbruch der Dämmerung in immer wieder neuer Position die Sterne: das Sommerdreieck, der Große Wagen, der Jäger Orion.

Und ich erinnere mich. Auf dem Klo sitzend wiederholte ich leise vor mich hin singend in einer beschwörenden Bejahung die Zeilen Händels: we shall all be changed.

 

©BarbaraBiegel 2025


Donnerstag, 3. April 2025

Steine

 

„Es gibt Zeiten, wo die Zerbrechlichkeit alles Lebenden so offensichtlich ist, dass man jeden Augenblick auf einen Stoß, Sturz oder Bruch zu warten beginnt. Man fängt an, mit Schicksalsschlägen zu rechnen.“ Das schreibt Siri Hustvedt in ihrem Roman „Der Sommer ohne Männer“. Ich mag das Buch, das sich so persönlich an die LeserInnen wendet, das einen so liebevollen Blick auf eine junge Familie, alte Eltern, Ehemänner, junge Mädchen und nicht zuletzt auf sich selbst, die Ich-Erzählerin richtet. Sie scheut sich weder vor Gefühlen noch davor, Verantwortung zu übernehmen und Dinge anzusprechen.

Die Zerbrechlichkeit alles Lebenden, dazu gehört für mich immer auch der Blick auf unsere Ängste, auf die Psyche der Kinder und Heranwachsenden, auf die politischen Veränderungen und vor allem auf die Natur. Sie spiegelt uns am deutlichsten, wie es um uns steht.

Ich werde im Sommer zum dreizehnten Mal umziehen. Erneut geht es ums Loslassen, diesmal bin ich noch großzügiger als die letzten Male – es soll, wenn möglich, das letzte oder vorletzte Mal sein. Man weiß nie. Jedes Ding wird in die Hand genommen und entweder als Mitnehmens-würdig, Gebrauchtwarenhof-würdig, Flohmarkt-würdig oder wegwerf-würdig erachtet. Die Dinge üben Macht über uns aus – das wird mir vor allem bewusst, wenn ich die Widerstände wahrnehme, wenn es darum geht, meine gesammelten Steine „aufzugeben“. Für viele werde ich in der Gegend des neuen Wohnorts einen guten Platz finden, doch ab und zu ertappe ich mich dabei, wie ich das eine oder andere Exemplar wieder aus der Schachtel nehme, die für den Umzug bereitsteht. Es ist weniger der Fundort der Steine, der mich mit ihnen verbindet, es ist ihre Form, die Glätte und besonders die weißen Quarzbänder, die die Brüche der Erdgeschichte in sie eingeschrieben haben wie die Linien einer Zeichnung. Auch diese Linien erzählen von Zerbrechlichkeit, sind sie doch in einem Moment entstanden, als unter großem Druck Teile zusammengefügt wurden, die vorher großer Druck hatte bersten lassen. Und die Steine verkörpern für mich die Zeit, denn es sind meist Flusskiesel, die über lange Zeiträume rundgeschliffen wurden.

Über meinem Schreibtisch ist folgender Text zu lesen (AutorIn unbekannt):

Von allen Kreaturen in diesem Universum haben Felsen die größte Begabung, an ihrem Platz festzuhalten. Das heißt nicht, dass sie sich nicht bewegen, sie bewegen sich, aber sie schaffen es, ihren Platz zu behalten, ihr Gewicht, ihr Zentrum.

Gib dem Teil in dir nicht nach, der sagt: Ich bin nicht gut genug! Sei ein Fels!