Dienstag, 24. April 2018

DOKU







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Ich kann keinen Film mehr sehen, ohne den Inhalt auf mich zu beziehen. Nicht einmal eine Naturdoku über das Erzgebirge zum Beispiel. Binnen Sekunden nehme ich jede Rolle an, die mir angeboten wird. Ich werde wie die Köcherfliegenlarve, die zu ihrem Schutz kleine Steine zu einem Köcher verklebt. Eine Hülle entsteht um meinen Körper, nur aus Geschichten, von denen die meisten recht neu sind und noch ungefestigt, noch nicht in einer Erzähltradition zusammengehalten, sondern als Teilchen im freien Raum schwebend. Der Klebstoff, von mir abgesondert als Aneinanderreihung von Worten über Sinn und Wahrheit, droht sich im Lauf der Zeit aufzulösen und ich muss stets befürchten, plötzlich nackt da zu stehen, mit nichts als der Trauer.
Als nächstes bin ich die Feuersalamanderin, ihre Jungen lebend gebärend. Vom Zerreißen der Eihaut an müssen sie alleine durchs Leben gehen. Ich sehe ihnen nach und frage mich, wann damals meine Eihaut riss. Oder ob ich mich vielleicht immer noch darin befinde, oft scheint es mir so. Um- und umgewirbelt in der Welt, umgeben von einem Band aus Gedankenschleifen, kann ich dieser Beschleunigung nichts entgegensetzen, geschweige denn, die Richtung vorgeben.
Schnell nehme ich die Gestalt einer Wassermaus an. Ich zwinge mich zum Tauchen. Es sieht leicht aus, aber die Tiefe kostet mich viel Kraft. Um meiner Rolle gerecht zu werden, sammle ich mit Schnappatmung Wortblasen in meinen Haaren an. Diese Einsprengsel aus Luft helfen mir, am Grund des Baches Steingewichte mit meinem Körper zu stemmen, die das Mehrfache meines Eigengewichts ausmachen. Ich halte Seminare für Trauernde, schreibe ganze Romane zu Ende, gebe Qigong-Kurse und so weiter. Es gelingt mir, den Leuten vorzutäuschen, dass es mir gut geht.
Am liebsten bin ich die Wasseramsel. Ich mag das Weiß der Trauer am Körper. Ich vereine zwei Elemente. Ich fliege, aber ich kann auch, wie sie, mit offenen Augen abtauchen, wenn ich mich beobachtet fühle und am Grund mit dem Schnabel Steine wälzen, meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Wasser ist ein mächtiger Gestalter, im Gespann mit der Zeit, sagt die sonore Sprecherstimme in mein Ohr, während es um mich rauscht. Wie schwer es sein kann, wieder ins Fließen zu kommen, weiß ich.
Wasser hat einen spitzen Kopf, sagt man. Zu mir hat das noch keiner gesagt. Alle außer mir wissen so etwas. Selbst die Kindergartenkinder in meinem Projekt gestern versuchten, es mir begreiflich zu machen. Ständig zeichneten sie Wassertropfen mit spitzen Abrissenden.
An dieser Stelle schalte ich den Bildschirm dunkel. Mehr Rollen will und kann ich für heute nicht einnehmen.

©barbarabiegel2018


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