Montag, 7. Dezember 2020

Das Schreiben (und der Tanz)

 

Foto: Ida Biegel
 

Ich sitze auf dem Hocker neben dem Heizkörper im Zimmer meiner Tochter und setze von Neuem den Stift an, um zu schreiben, als plötzlich ein kleines schnelles Insekt über das Papier läuft. Ohne nachzudenken lasse ich meine Hand darauf fallen und wische es vom Blatt. Ein zarter Strich bleibt zurück. Ich starre ihn an. Was geschieht in diesem Moment? Tritt das Insekt seine Reise in den Himmel an? Oder verharrt es für eine kleine Weile in diesem unbekannten Zwischenreich, von dem so oft die Rede ist? Verhält es sich bei Insekten anders als bei Menschen? Eine weitere Frage taucht auf, die mir zu denken gibt. Hat das Insekt Angehörige? Oder war es das letzte Glied einer Reihe von Lebewesen, das Einzige, das sich durch die Frostnächte der letzten Zeit hat retten können? Eine Überlebende, die froh war, in der Perforierung der Seiten meines Schreibblocks oder in den Zwischenräumen der Spirale aus Draht ein Versteck gefunden zu haben? Es stellt sich die Frage, weshalb es sein Versteck verlassen hat, weshalb es so plötzlich losgelaufen ist, am hellen Tag, klein und dunkel, in dem Moment meines Schreibenwollens, deutlich sichtbar auf dem weißen Papier. Ich hatte eben die Überschrift verfasst, als die Geschichte durch sein unvermitteltes Auftauchen und mein reflexartiges Handeln eine andere wurde. 

Draußen vor dem Fenster stößt eine Amsel empörte Rufe aus. Wie hat sie erfahren, was vorgefallen ist? Hat sie, anders als ich, Zusammenhänge erkannt, die mir verborgen geblieben sind? So viele offene Fragen. Doch was mich rettet, ist das Schreiben. Es wirft mir Antworten zu wie Rettungsanker, es lässt mich auf den Wellen der Trauer reiten, anstatt mich in der Tiefe versinken zu lassen. Es trägt mich wie ein Floß an Land, auf festen Grund. Es verhindert, dass die Fragen mein Hirn vernebeln, dass meine Füße ins Straucheln kommen, dass mein Atem stockt. Das Schreiben bringt mich zum Fließen.

 

Wer einen großartigen Text über das Tanzen lesen möchte, sei auf den Blog verwiesen, der in dem Zimmer entstand, vor dessen Fenster die große Zeder steht:

 IDA (ida-biegel.blogspot.com)

 

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