Montag, 8. März 2021

Lebensringe

 

Ich bin Stein und fühlend. Ich bin Granit und Sandstein und Findling. Ich bin Kiesel und Tonschale. Ich trage Buchstaben, Sterne, Striche und Kreuze.

Jahr für Jahr sehe ich die frisch gepflanzten Bäumchen in Feld 12 größer werden. Es sind zur einen Hälfte Zierkirschen und zur anderen Zierapfelbäume. Inmitten des Grüngrau der Hecken und der silbrigen Rinde der Buchen verleiht ihre rosafarbene und dunkelrote Blütenfülle im Frühjahr dem Platz eine frische Aufbruchsstimmung. Manchmal wird dadurch sogar ein Stein bewegt, er rutscht ein bisschen zur Seite oder fällt um, obwohl wir Steine die Wesen mit dem größten Talent zur Ortstreue sind.

Ich bin Stein. Ich spreche mit dem Gras und das Gras spricht mit mir. Wir tauschen uns über die Menschen aus, die ab und an auftauchen. Bleiben sie neben uns stehen, empfangen wir Abbilder ihres Wesens. Meist sind es unregelmäßig geformte und eher farblose Gebilde, aber manchmal erscheinen in ihrer Aura auch Kreise, die Klarheit ausstrahlen und die von einer Farbigkeit sind, die tief in uns ein Echo hervorruft. Wir haben erkannt, dass es Menschen sind, die nach Krisen wieder Boden unter den Füßen gewonnen haben. Wir Steine wissen  von den Wurzeln der Bäume, die mit Jahresringen vertraut sind.

Man hat sechs bis zehn Gräber sternförmig um jedes dieser Bäumchen angelegt. Pflanzen, Vasen und Gestecke bedecken sie, und darüber baumeln die Mitbringsel der Angehörigen von den Zweigen: aufgefädelte Schneckenhäuser, gefaltete Papierkraniche oder Tropfen aus Glas. Von der Stadt drängt die Sirene eines Rettungsfahrzeugs herauf. Rettung naht, Rettung für die, die sie brauchen.

 





Mit großer Dankbarkeit blicke ich gerade auf die Geschenke, die das Leben mir macht, Momente voller Freude und Möglichkeiten, Nähe und Gemeinschaft.



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