Freitag, 11. Februar 2022

Die junge Frau

 


Es wurde eine Zugfahrt der anderen Art. Nicht, dass der Ablauf ungewöhnlich gewesen wäre. Nein. Wie üblich schwiegen die meisten Mitfahrenden, einige schliefen. Sobald sich meine beschlagenen Brillengläser bequemt hatten, mir den Blick frei zu geben, bemerkte ich, dass an der Frau schräg gegenüber irgendetwas besonders war. Sie hatte auf einem der Klappsitze Platz genommen und mir fiel zuerst ihre Kleidung auf. Sie trug feste Schuhe mit rotschwarz gestreiften Schnürsenkeln, darüber augenscheinlich selbstgestrickte Wollsocken, dazu eine saubere, aber sichtbar oft getragene Arbeiterhose mit Seitentaschen aus festem Stoff. Die Kapuze der hellgrauen Anorakjacke hatte sich im Nacken der jungen Frau von innen nach außen gestülpt und leuchtete wie ein Ball in einem warmen Rot. Auf dem Kopf trug sie eine schlichte geschmackvolle Mütze. Zwischen der schwarzen Maske und dem Rand der Mütze waren nur ein kleines Stück der Stirn und unter den schön gezeichneten dunklen Brauen die Augenpartie zu sehen. An den Händen trug sie Handschuhe, die bis über die Knöchel reichten und die Finger frei ließen. Vielleicht hatte sie gespürt, dass ich sie musterte, denn plötzlich traf mich ihr Blick, blau und von großer Helligkeit. Ich musste sofort an einen Morgen in Finnland denken, an Wellen, die sich ans Seeufer warfen, dazu der Duft frischen Birkengrüns. Auf einmal stieg in mir die Frage auf, wieso sich keiner der Fahrgäste vor ihr verneigte, mich inbegriffen. Weshalb niemand aussprach, was die junge Frau so besonders machte. Dass sie große Entschlossenheit ausstrahlte, eine Entschlossenheit, gepaart mit einer Geradlinigkeit, die sie zu einer Hoffnungsträgerin machten, gleich welche Probleme es zu lösen galt. Doch niemand verneigte sich, auch ich nicht. Schweigend stiegen alle am Endbahnhof aus. Das letzte, was ich von ihr sah, war, wie sie mit federndem Schritt mitten in der Menge verschwand. Später am Tag, als ich nach der Arbeit nach Hause fuhr, erzählte man sich am Stand des Brezenverkäufers, Blüten wären am Morgen wie aus dem Nichts vom Himmel geschwebt und hätten sich kurz vor dem Boden aufgelöst, als wollten sie die Füße der Passanten küssen. Das sei bis zum Hauptmarkt so gewesen, vielleicht ein Trick von Medienleuten, die wohl eine Spur hätten legen wollen, um irgendeine dubiose Absicht zu verfolgen. Am nächsten Tag stand in der Zeitung, was dann am Schönen Brunnen passiert war, die Welt hatte innegehalten, erste Kurswechsel fanden bereits statt - und ich schämte mich, dass ich das Besondere an der Frau erkannt hatte und trotzdem nicht mit ihr gegangen war.

©Barbara Biegel 2022


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