Sonntag, 24. Juli 2022

Ich Schaf

 

Für I.

 

Liebes Tagebuch, hier ist dein Schaf. Lange habe ich dir nicht mehr geschrieben. Heute drängt es mich dazu.

Mein Gegenüber sitzt in der Küche und blickt auf den Tisch, während es spricht. Ich bin auf den Stuhl in der Ecke geklettert und ganz verspannt, ich friere, meine Wolle ist verfilzt und alles an mir fühlt sich ganz falsch an. Der gesenkte Kopf mit dem schmalen Mund sagt Worte, die mir mitteilen, was ich schon weiß: dass ich nicht richtig bin. Es stimmt, die Farbe meines Fells ist dunkel und fleckig, meine Wolle ist anders gewachsen als die aller anderen Schafe. Ich habe zwar gehört, dass es irgendwo Exemplare gibt, die mir ähneln, aber hier in der Gegend habe ich nur eines getroffen. Es grast oft etwas weiter weg inmitten einer kleinen Schar am Rande der Herde, während ich mich lieber in der Nähe der Hirten aufhalte. Das gibt mir Halt, weil ich so oft verwirrt bin. Die Regeln zu kennen, beruhigt mich. Ab und zu schließe ich Freundschaft mit den Vögeln, die auf meinem Rücken reiten und mir die Insekten aus dem Fell picken. Mit meinem Gegenüber verbindet mich etwas anderes als Freundschaft, wir reden immer öfter aneinander vorbei, keiner kann sich so recht verständlich machen. Die Hauptschuld daran trage ich, ich war lange nur mit mir selbst beschäftigt, nie konnte mein Gegenüber es mir recht machen, ich dachte und verhielt mich, als sei ich das Zentrum des Universums. Seit kurzem erst habe ich erkannt, wie falsch das war. Ich bin wahnsinnig erschrocken, was nicht untertrieben ist, obwohl ich daran gewöhnt bin, Fehler zu machen. Seither versuche ich, achtsamer zu sein und keine Erwartungen an Andere zu haben, aber das gelingt mir schlecht und ich würde am liebsten im Erdboden versinken, auch weil das Leben, das ich führe, so gar nichts mit dem Leben zu tun hat, das ich mir erträumt habe. Früher sah ich mich angestrahlt von Scheinwerfern mit lockig duftendem Fell vor Publikum auf Bühnen sitzen, im Kreise wichtiger Persönlichkeiten. Selbst Zauberer und Wölfe könnten mir nichts anhaben, weil ich stets klug und selbstsicher die richtigen Antworten auf alle Fragen wüsste. Dieser Traum ist zerplatzt, die Wahrheit ist, dass ich sehr große Angst habe und keinen meiner hohen Ansprüche auch nur ansatzweise erfüllen kann. Nicht einmal den genügsamsten Nachbarschafen traue ich mir zu sagen, was ich wirklich denke und fühle, denn ich weiß nicht was zu tun ist, wenn sie ausschlagen. Es hilft mir nicht, dass ich sehr verständnisvoll bin und mich gut in mein Gegenüber hineinversetzen kann. Kaum jemand bringt Verständnis für mich auf - und so sage ich lieber nichts. Es ist dumm, zu viel zu wollen, man muss bescheiden auf der Stelle treten und darf auf gar keinen Fall unbekannte und unerlaubte Wege gehen. Die Strafe folgt immer auf dem Fuße. Die Frau des Fischers im Märchen, das sich die Hirten erzählen, hat alles hergeben müssen, sie wollte zu viel. Auch ich sitze, anstatt auf einer grünen Wiese zartes Gras und Kräuter zu fressen, auf einem unbequemen Stuhl fest und blöke Fragezeichen vor mich hin. Mein Gegenüber sagt deutlich, wie es sich unsere Beziehung vorstellt: Jeder hat Raum, und man trifft sich nach der Arbeit oder in den Pausen und tauscht sich aus. Austausch bedeutet, sich gegenseitig zu erzählen, was man macht. Fragen dürfe man nur solche stellen, auf die mit Ja oder Nein zu antworten ist. Würde ich zum Beispiel gefragt werden: „Kommst du mit deiner Arbeit voran?“, würde ich antworten: „Ja, nett, dass du fragst!“, und lächeln. Man würde sich ohne Worte verstehen, getragen von einem Vertrauen, das nichts erschüttern kann, das so unerschütterlich wäre wie unsere gegenseitige Liebe.

Plötzlich tut mein Po weh auf der harten Sitzfläche, meine Beine werden unruhig und meine Wolle beginnt zu kratzen. Es fühlt sich an wie ein Einspruch, aber es gelingt mir, still zu halten, ich will auf keinen Fall unhöflich sein. Und es klingt ja auch wundervoll, wer wünscht sich nicht eine derartige Beziehung, ungetrübt und voller Harmonie? Eine Beziehung, in der ein Lächeln genügt und in der nichts zerredet werden muss. Niemand würde jemals Probleme mit Wut haben, denn alle Gründe für Wut wären ausgelöscht. „Wir hatten schon einmal solche Zeiten“, sagt mein Gegenüber mit der Tasse Kaffee in der Hand, ein vertrautes Bild, die Tasse muss an der Hand festgewachsen sein, „als ich einmal neben dir stand und dir beim Arbeiten zusah.“ Ich überlege, welche Arbeit gemeint ist, aber bevor ich darauf komme, wird weitergesprochen und gesagt, dass das schön war damals und dass es genauso wieder werden solle. Ich sehe das ein und probiere den Satz aus, ich hätte zu viel Zeit damit verbracht, nach irgendwelchen tieferen Inhalten zu suchen. Da gibt mein Gegenüber mir recht und sagt, das wäre ja auch wichtig, aber deshalb müsse man sich doch nicht dauernd damit beschäftigen und noch dazu verlangen, dass andere etwas dazu beitragen sollten. Jedes Wesen habe Gedanken und Gefühle, aber es reiche doch, das als gegeben zu nehmen, anstatt in unzähligen Monologen ein Übermaß an Worten zu verlieren. Ich seufze, es stimmt, ich habe mein Gegenüber jahrelang zugetextet, ich habe es so sehr genossen, dass mir endlich jemand zuhörte. Warum reichte mir das nicht? Warum war ich so anspruchsvoll und ständig darauf aus, meinen Kopf durchzusetzen?

Der Kopf mir gegenüber wird langsam geschüttelt und der schmale Mund fragt: „Wie machen das bloß andere Paare?“ Die Frage kommt immer, wenn ich aufgeregt meine Stimme gehoben habe. In mir taucht der Gedanke an andere Schaf-Frauen auf. Bestimmt sind sie klüger als ich und machen einfach ihr Ding. Bestimmt erwarten sie nicht, dass jemand mit ihnen über tiefere Zusammenhänge spricht, weil sie wissen, dass es zwischen Schafen große unüberbrückbare Unterschiede gibt. Ich bin nur ein kleines Schaf und habe so gut wie keine Ahnung vom Leben. Mein Kopf ist im Verhältnis zum Körper zu groß geraten und bot von Anfang an zu viel Platz für Zweifel, Ansprüche und jede Menge Illusionen. Seit ich den Kopf etwas sinken lasse und nicht mehr so hoch trage, geht es mir besser. Ich sage meinem Gegenüber, dass es mir leid tut, dass ich immer so anstrengend bin. Es versteht mich nicht und sagt, dass es mich liebt und dass ich so etwas nicht sagen soll, ich würde alles immer so kompliziert machen. Dann steht es auf vom Tisch und geht für mich einkaufen. Es tut alles, dass wir es schön haben. Es hängt von mir ab, ob ich es schaffe, mich anders zu verhalten. „Ganze zwei Jahre schon bist du zu schroff zu mir“, der Satz meines Gegenübers klingt in mir nach. Aber es wird sein möglichstes tun und mit einem viel zu schweren Rucksack für mich heimkehren, mit lauter Dingen, damit es mir gut geht und damit ich endlich wieder so bin wie früher.

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