Sonntag, 14. August 2022

Die Fahrt

 






Bin unerwartet mit dem Zug von N nach L über B gefahren. Schönes Flusstal bis und nach K. Wiesen, sanft, ruhig, wenige Vögel. Eine rote kreisrunde Sonne taucht unter einem grauen Wolkenhimmel noch einmal auf. Ich sehe den Zug neben mir losfahren und denke an morgen. Nicht daran denken! Kein Ach jetzt. Leere im Kopf. Blockade. Der Zug steht. Fährt und steht erneut. Und steht. Dunkelheit senkt sich. Die Pfützen gefrieren. Endlich fahren wir wieder los. Die Innenbeleuchtung des Waggons ist so hell, dass durch die Spiegelung in den Scheiben nichts mehr von draußen zu erkennen ist. Nur selten erscheint im oberen Teil des Fensters etwas wie eine blaue Fläche, durchwebt vom Geflecht der Baumkronen. Aus den aufgerissenen Augen der wenigen Mitreisenden quellen Rinnsale türkisfarbener Flüssigkeit, die sich rasch zu Bächen vergrößern und nach dem Erreichen des Bodens im Abteil sammeln und ansteigen wie in einem sich schnell füllenden Schwimmbecken. Wie erstarrt sitzen die Menschen auf den blaukarierten Sitzbezügen. Mit ausdruckslosen Gesichtern lassen sie das Wasser höher und höher steigen, bis zum Hals und über den Kopf. Anfangs erreichen noch Luftblasen aus Mund und Nase die Oberfläche, dann bleibt sie unbewegt in dem gleichmäßigem leichtem Wellengang, mit der der Zug sich fortbewegt. Am längsten hat sich die Katze in ihrer Transportbox gewehrt. Mit wilden Sätzen sprang sie hin und her, unbeachtet von dem Mädchen, das sie auf dem Schoß hielt. Der Zug passiert den Erker auf der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Seit langer Zeit ist er wieder erleuchtet von seinem weiß gedeckten Tisch. Dort sitzt ein Mann vor einem halbgefüllten Bierglas. Sein Halbprofil erinnert mich an meinen Onkel, von dessen Beerdigung ich komme.

©Barbara Biegel2022

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