Freitag, 15. Mai 2015

Ida und der Vogel



Ida ging durch die Straßen der Stadt.

Offen für Begegnungen ließ sie sich treiben.

Sie überquerte eine Straße in Richtung Fluss und fand neben der Fahrbahn einen Vogel, am Teer liegend.

Armer, toter Vogel, sprach sie und, angerührt von der Zartheit seines Gefieders, hob sie den kleinen Körper auf, ganz sacht, und ließ ihn auf das Gras gleiten, das Gras unter den Bäumen, die die Straße beschatteten.

Da spürte und sah sie sein Herz klopfen.

Mit Wassertropfen aus ihrer Trinkflasche benetzte sie den Schnabel, ein kleiner Schwall roten Blutes benetzte die Brust.

Aber die Augenlider zuckten.

Wieder und wieder träufelte sie Wasser auf den Schnabel, worauf sich das Blut verdünnte.

Da begann er zu schlucken. Und trank schließlich.

Sie kniete im Gras neben ihm, als sich die Augen öffneten und wieder schlossen. Und sich wieder öffneten.

Sie strich ihm behutsam über die Brust und war bei ihm.

Da ging ein Beben durch den Körper des Vogels, die Flügel breiteten sich aus und er flog auf den nahen Baum.

Sie stand auf, dankbar, dass das Leben in ihn zurückgekehrt war.

Er flog noch auf den nächsten Ast. Und weiter.

Dann ging sie.

Als ich sie später fragte, was für ein Vogel das gewesen sei, konnte sie ihn nicht beschreiben.

Ich glaube, sagte sie, das ist so, wenn Jemandem etwas zustößt: Du hilfst und achtest nicht darauf, welche Hautfarbe jemand hat.



Mir begegnete heute auch ein Vogel, aber er war tot.

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