Montag, 11. Januar 2021

Das Heimweh

 

Lieber Otto, ich las, dass das Heimweh sich bei dir eingenistet hat und es drängte mich, dir zu schreiben.

Oh, ich kenne es gut. Es ist groß und hat blonde Locken, in denen Worte schwingen wie „Sehnsucht“, „anderswo“ oder „Glück“. Bei mir war es auch schon zu Gast. Nicht, dass ich es eingeladen hätte, doch eines Tages kam ich heim und es hatte sich auf dem Sofa breitgemacht, unter den zahlreichen Bilderrahmen mit meinen Familienmitgliedern. Ich war sprachlos und habe erst einige Zeit später verstanden, dass das Ausbleiben meiner Worte mit diesem ungebetenen Gast zu tun hatte. Er hatte die Stummheit mitgebracht, sie haftete an ihm wie ein Flicken auf Stoff und hob sich mit ganz eigener Strahlkraft ab. Der Raum flimmerte.

Das Heimweh stand auf, es erhob sich mit einer Selbstverständlichkeit, als gehörte es zu mir und in meine Umgebung, es verhielt sich, als sei Widerspruch ausgeschlossen, und schon nach wenigen Minuten spürte ich ein Sehnen in mir aufsteigen, ein Sehnen nach Geborgenheit, nach Bratäpfeln, nach Ruhe, nach dem Geruch einer Wolldecke mit roten Rauten auf blauem Grund. Ich war dem Heimweh sofort verfallen.

Otto, ich weiß, du bist von stärkerer Natur, du bist bodenständiger und du lässt dir nicht so leicht etwas vormachen. Aber ich ahne, für alle, die es aufsucht, gilt das Gleiche, nämlich, dass dem Heimweh kaum zu entkommen ist. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass man es schwer wieder loswerden kann, wenn es sich einmal eingenistet hat. Mit der Zeit schwappt mehr und mehr Traurigkeit ins Zimmer und steigt bis zur Decke und an den Rand des Herzens.

Falls es noch nicht ganz soweit ist, lieber Otto, besteht noch eine Chance. Ich will dir das Geheimnis mitteilen.

Nimm den Bleistift neben deiner Zeitung zur Hand, schlage sie auf und unterstreiche alle Worte, die mit Tätigkeiten zu tun haben, also "gehen, verhandeln, übernehmen, anerkennen, mieten, verstecken", es funktioniert auch mit komplizierten Namenwörtern, die dem eher einfach gestrickten Heimweh den Wind aus den Segeln nehmen, es verfängt sich darin wie  Singvögel in den Netzen von Vogelfängern, wie Erinnerungen an frühere Ereignisse in Regionen unseres Gehirns. Unterstreiche also Wörter wie "posttraumatisch, Arbeitserlaubnis, Premierministerin und Europaparlamentarier". Bald wird das Heimweh dir über die Schulter schauen und die Wörter können ihre Wirkung entfalten. Die Trockenheit der Themen und die schlechten Nachrichten aus aller Welt entziehen ihm die warme, feuchte Grundsubstanz, aus der es besteht und die angeheizt wird durch das Hören und Lesen von Sätzen, die sich um Wachstum, Volk, Gemütlichkeit oder Gemeinschaft drehen.

Du wirst sehen, lieber Otto, das Heimweh wird schrumpfen und sich dann mit einem kaum wahrnehmbaren Laut, in dem Enttäuschung mitschwingt, unter dem Türspalt davon schleichen.

Alles Gute für dich, deine B.

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