Mittwoch, 9. Juni 2021

Herztier

 

Gestern ritt W über der Stadt, auf einem großen weißen Wolkenpferd, zwischen riesigen weißen Wolkenbergen. Er trug sein weißes T-Shirt und winkte mir zu und lachte laut. Es klang wie Donner. Seine blauen Augen blitzten.
Ich sah zu ihm hoch und dachte, wie dumm es von mir war, das Leben nicht zu feiern. Mir all die Gedanken über eine Zukunft zu machen, die, mochte sie auch noch so gefahrvoll erscheinen, nichts als ein Geschenk war voller Möglichkeiten und Intensität. In diesem Moment war ich sicher, auf jeder Welle reiten zu können.
Ich dachte an I und ihre Unbeirrbarkeit, und an N, die mir am Vortag gesagt hatte, es ginge nur darum, Schritt für Schritt zu tun. Nach dem Gespräch mit ihr ging ich unter dem Wolkenhimmel durch die Häuser bis in den Bastelladen, kaufte mir ein Stück Speckstein und zwei Feilen. Das Tier, das sich in dem Stein versteckt hält, gibt bis jetzt nur Herzen frei, die sich in Wirbeln auf seinem zottigen Fell tummeln. 
Leben besteht demnach aus Herzschmerz und immer wieder bei mir ankommen, aus ständigem In-mir-ein-und-aus-mir-ausziehen, sowie aus dem Worte wechseln und Blicke tauschen über eine Mango-Bergamotte-Eiskugel hinweg. 
Allein dieser Erkenntnis wegen wird mein Sohn mich begeistert in die Arme schließen, auf der anderen Seite der papierdünnen Tür, die ich mit all meinen Erfahrungen marmoriert haben werde.

©Barbara Biegel 2021

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen