Mittwoch, 25. Dezember 2019

Weihnachten








Der Esel trat in den Kreis.

„Mir ist das Los zugefallen, dieses Jahr die Rede zu halten. Ich bin ja neu in diesem Kreis und Egon, der, wie ihr wisst, letztes Jahr ins Altersheim kam, hat mir ein bisschen erzählt von dem, was so erwartet wird und ich hoffe, ich kann die mir von euch gestellte Aufgabe erfüllen.“ „Fang schon an!“, rief ein Engel und stellte den geleerten Glühweinbecher mit einem Knall auf den Tisch, „ich will dann auch noch was sagen.“ Irritiert sah Egon ihn an. „Gut, äh, alles klar.“ Alle Gesichter hatten sich ihm zugewendet. Das Christkind gähnte mit offenem Mund. Maria zupfte ihr Kopftuch zurecht. „Ich möchte eine Rede halten, die uns wieder die wahren Werte ins Gedächtnis ruft. Es geht um einen drohenden Verlust. Gerade wir Esel vermissen in der letzen Zeit, dass auf Stroheinstreu immer weniger Wert gelegt wird, dabei ist gutes Stroh doch die Grundlage für ein gelingendes Leben.“ Aufmerksam sah das Christkind hoch. Es wusste, wie wichtig eine ausreichende Menge an Stroh für einen bequemen Schlaf war. „Heutzutage werden der Duft und die Farbe des Strohs unterschätzt“, fuhr Egon fort. „Das Gelb der Halme erfüllt jedes Herz mit Freude. Der Duft lässt Erinnerungen aufsteigen, die uns mit der Vergangenheit, mit unseren Ahnen verbinden. Gerade wir, die wir uns heute an Weihnachten getroffen haben und die doch Boten der Verheißung sind, sollten Vorbild sein für die vielen Geschöpfe, die etwas abseits von Gottes Gnade ihr Dasein fruchten.“ Der Weihnachtsmann blickte den Esel vorwurfsvoll an, als wollte er sagen, dass es sehr wohl Gründe dafür gab. „Dafür gibt es sicher gute Gründe“, beeilte sich der Esel zu sagen. „Und wer bin ich, das zu hinterfragen, mir geht es lediglich darum, dass alle Wesen, also auch sie, ihr Stroh abbekommen, nicht nur ihr Fett.“ Er bemerkte, dass Jesus Maria den Plätzchenteller zuschob. Er sollte wohl besser zum Schluss kommen. „Deshalb, lieber Weihnachtsmann, lieber Jesus, Maria und ihr Engel, und auch dich, liebes Christkind, will ich in meiner Aufzählung nicht vergessen, ich rufe euch zu: Haltet an den Strohhalmen fest! Lasst nicht nach, diese Botschaft zu verbreiten, eine Botschaft, die neben der Botschaft der Liebe eine der entscheidendsten und weittragendsten auf der Erde ist, die Botschaft, die Vertrauen heißt, Vertrauen darauf, sich niederlassen zu können, unabhängig von einem Ort.“ Die Stille, die auf diese Worte folgte, war nur kurz. „So soll es sein! Prost!“, riefen die Engel durcheinander und das Christkind lief auf Egon zu und küsste seine weiche Nase.

©Barbara Biegel2019 

(Abbildungen: Collagen nach dem Teppich von Angers, 2009)

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