Sonntag, 19. April 2020

Geschenk für meinen Vater





Lieber Papa,
seit neun Jahren bist du auf der anderen Seite und reichst dort deinem Enkel, meinem Sohn, die Hand. Ich träume oft von euch beiden, meinen liebsten Toten.
Heute bin ich mit meinen gesammelten Steinschätzen in den Wald gegangen, zu einer uralten Eiche, die ich vor zwei Jahren entdeckt habe. Es ist weit bis zu ihr, man muss auf den Berg und ganz über die Hochfläche, dann am Friedhof des nächsten Dorfes rechts abbiegen, durch eine Senke und vor dort aus durch einen Buchenwald einem sanft ansteigenden Weg wieder auf eine Anhöhe folgen. Zwischen Feld und Waldrand führt ein Weg nach etwa fünfhundert Metern zu dem alten Baum, er steht ein bisschen abseits am Hang.
Ich hatte Zeit, mich diesem Ort zu nähern und mir war, als liefe ich zurück auf der Zeitachse, zurück zu den Tagen im April vor neun Jahren, als dein Herz aufhörte, zu schlagen. Die letzten Tage waren schwierig und die Trauer überfällt mich immer noch, ich habe mir damals keine Zeit für die Trauer genommen, ich war umgezogen ins Neue und Ungewisse, ich habe versäumt, meine Trauer für dich hin und her zu wenden in Liebe und Schmerz. Dieses Mandala am Fuß der alten Eiche ist für dich. Es ist ein bisschen unter Sträuchern versteckt, ich hoffe, ich kann es eines Tages deiner Enkelin zeigen. Es ist ein Geschenk, ich möchte „Danke“ sagen für das, was du mir mitgegeben hast für mein Leben.
Du hast mir viel beigebracht, die Werte Geduld, Fairness, Demut, Bescheidenheit und das Finden von wirklichem Glück in allem, was wir tun. Deine Ausdauer, Kraft und Disziplin als Selbstständiger waren mir in meiner Freiberuflichkeit Vorbild, ebenso dein ehrenamtlicher Einsatz. Die Liebe zur Natur, dein Sinn für Ästhetik, dein Humor, dein Interesse an Zusammenhängen, vieles hatten wir gemeinsam. Ich war früher nicht so sportlich, wie du es dir gewünscht hast und auch nicht so selbstbewusst im Umgang mit Menschen, doch du hast mich immer unterstützt und meinen Weg tatkräftig begleitet. Wir waren beide Sachensucher, auf langen Spaziergängen habe ich Versteinerungen und du Obstbäume gesucht. Uns einte das Interesse an Geschichte, an der heimatlichen Landschaft, an alten Gegenständen. Du warst offen für das Wesen deiner Enkel.
Lieber Papa, ich verdanke dir viel. Heute war Zeit, meiner Liebe und Trauer Ausdruck zu geben. Mit jedem Stein, jedem Hölzchen und jeder Blüte fühlte ich mich mit dir verbunden. Du warst sicher der Schwarzspecht, der vorbeiflog, der Milan, der über uns kreiste, der Falke, der uns beäugte. Und bestimmt auch der Hase, der sich nach getaner Arbeit zeigte, als ich still auf der nahen Bank saß. Du weißt, ich war nicht allein dort, und das ist gut so.
Bald werde ich die nächste der alten Videokassetten auf deiner Kamera ansehen, ich halte die Kamera wie du und bin dir nahe, ich sehe die Ostsee wie du, sehe Mama in einer Kirche eine Kerze anzünden, sehe Russland und all das, was dich an den Orten, an denen ihr wart, interessiert hat. Ich höre deinen Kommentar, lese Datum und Zeit, denke an früher und an heute und bin dir nah.
Danke für alles, Papa. Deine Tochter.


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