Dienstag, 21. Dezember 2021

Postraub

 

Die Zentrale für Himmelsangelegenheiten kann sich nur hinter den Bahngleisen am östlichen Ortsrand befinden. In dem Grundstück mit der verfallenen Hütte. Das fiel mir heute wie Schuppen von den Augen, denn als ich das erste und einzige Mal dort vorbei gegangen war, wendete ich unangenehm berührt den Blick ab. So ein Chaos an Gerümpel sah man selten. Man konnte nicht einmal erkennen, ob das Grundstück früher als Garten gedient hatte.

Jetzt ist mir klar: das Äußere war die perfekte Tarnung. Das war der ideale Ort, um mit Himmelsangelegenheiten aller Art umzugehen. Völlig unbemerkt konnte man dort Einfluss auf das Geschick von Menschen, Tieren und Pflanzen nehmen. Alles war mit alten Latten, Brettern, Plastikwannen und Metallstangen verstellt, die Hütte ahnte man mehr als dass man sie sah. In ihr musste es eine Ecke in einer Kammer oder vielleicht sogar ein Kellergeschoß geben, in dem seit längerem alle Briefe, die sich inhaltlich mit der Zukunft der Erde befassen, gelandet sind. Seitdem warten sie auf ihre Weiterbeförderung. Ob ausgedruckte Email, Briefe oder Infopost, alle liegen dort in großen Haufen vergessen herum. Mir drängt sich die Frage auf, wann die Zentrale für Himmelsangelegenheiten in die Hände von Leuten geraten ist, die andere Interessen als Liebe und Entfaltung verfolgen. Auf jeden Fall würde die Welt anders aussehen, wenn das nicht geschehen wäre. Komisch ist nur, dass niemand eine solche Sendung vermisst. Manch einer muss doch Kenntnis davon haben, dass sie eines Tages an ihn abgeschickt wurde.

Während Mäuse an den Ecken vieler Briefe knabbern und sich in der Papierwolle Nester für ihre Jungen bauen, bewegt sich die Welt langsam aber sicher auf den Abgrund zu. 

Ich verstehe die Engel nicht, die sich doch Schutzengel nennen und scheinbar ungerührt dieser Angelegenheit ihren Lauf lassen. Weder werden diejenigen zur Rechenschaft gezogen, die das Postgeheimnis verletzt und wichtige Inhalte hinterzogen haben, noch die Mäuse, die doch, wenn schon Zweibeiner ihren Verstand verloren haben, als Vierbeiner ihren bedrohten Artgenossen beizustehen haben. Es ist ja nicht so, dass sie nicht Bescheid wissen. Täglich überfliegen Falken und Tauben das Grundstück mit der Hütte. Ihre Rufe höre ich bis in mein Zimmer. Sie fordern alle Willigen auf, die Post zu bergen und zu verteilen. Bis jetzt ist noch nichts passiert. 

Erst dachte ich, die Hoffnung läge nun allein auf den Schultern von Journalisten, die die Medien mit guten Radiobeiträgen über den Zustand der Erde zu versorgen haben. Dann fiel mir ein, dass meine Mutter jetzt einen dieser großen Bildschirme besitzt und ihre Freundinnen mit der Botschaft, die Welt müsse gerettet werden, anstecken könnte. Weise Alte würden bestimmt Gehör finden. Doch dann wurde mir deutlich, dass mir die Aufgabe zugefallen war, mir, die ich als Einzige von der Zentrale für Himmelsangelegenheiten weiß. So werde ich heute Nacht all meinen Mut zusammennehmen, dieses Grundstück betreten, die Post an mich nehmen und in alle erreichbaren Briefkästen werfen.

 

©Barbara Biegel21.12.2021

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen